Die Hälfte aller Eltern von Kindern im Alter zwischen drei und 14 Jahren kann sich vorstellen, diese permanent zu orten. Hier erzählt die Medienpädagogin Charlotte Horsch, was das mit Kindern macht und wie Eltern mit ihren Ängsten umgehen können.
Wo ist mein Kind und was stellt es gerade an? Diese Frage stellen sich Eltern oft. Und wer es tatsächlich zu jedem Zeitpunkt ganz genau wissen will, kann das heute auch. Mit digitalen Kinderuhren oder Monitoring-Apps auf dem Handy können Eltern ihre Kinder rund um die Uhr verfolgen: Sie sehen den Standort, können kurze Nachrichten schicken oder bekommen einen Hinweis, wenn das Kind weiter läuft als bis zur nächsten Ecke.
Nahezu die Hälfte aller Eltern von Kindern im Alter zwischen drei und 14 Jahren konnten sich vorstellen, ihre Kinder permanent zu orten, fand die Verbraucherzentrale NRW in einer Befragung heraus. Aber welche Konsequenzen hätte das? Charlotte Horsch arbeitet am Institut für Medienpädadogik JFF in München und berät regelmäßig auch Eltern, die ihre Kinder tracken oder darüber nachdenken. Einer ihrer Schwerpunkte: Medienerziehung in der Familie.
netzpolitik.org: Charlotte Horsch, die Schule geht wieder los. Eltern fragen sich jetzt vielleicht, wie sie ihre Grundschulkinder besser im Auge behalten können. Was raten sie Eltern, die ihr Kind mit Uhren oder Apps tracken wollen?
Charlotte Horsch: Ich kann das nachvollziehen. Vielleicht ist der Schulweg weiter. Die Kinder sind auf unbekannten Strecken unterwegs und man möchte wissen, ob das Kind sicher angekommen ist. Da kann so ein Gerät eine gewisse Sicherheit vermitteln. Gleichzeitig möchte ich Eltern auffordern, noch mal drüber nachzudenken, wann Tracking sinnvoll ist und wie sie es einsetzen.
netzpolitik.org: Wie sollte man es denn einsetzen?
Charlotte Horsch: Nicht rund um die Uhr. Und auf keinen Fall heimlich. Kinder sollten Bescheid wissen, dass sie getrackt werden, wann die Eltern sie tracken und wann nicht.
netzpolitik.org: Warum ist das wichtig?
Charlotte Horsch: Weil Heimlichkeit dem Vertrauensverhältnis schadet. Wenn Kinder irgendwann erfahren, dass die Eltern die ganze Zeit gewusst haben, wo sie sich befinden, kann das zu einem massiven Vertrauensbruch führen. Zum anderen haben Kinder ein Recht darauf, das zu wissen. Kinder haben auch ein Recht auf Privatsphäre.
netzpolitik.org: Und warum raten sie davon ab, dass Eltern ihre Kinder rund um die Uhr tracken?
Charlotte Horsch: Die Kinder können dadurch den Eindruck bekommen: Meine Eltern vertrauen mir nicht oder ich kann das gar nicht alleine. Sie verlassen sich komplett auf den Schutz der Eltern und entwickeln wenig Eigenständigkeit. Deswegen möchte ich Eltern ermutigen, das Tracking, wenn überhaupt, sporadisch einzusetzen. Vielleicht für die ersten Wege, die allein bewältigt werden, aber nicht routinemäßig bei jedem Weg.
Und was mir am wichtigsten ist: Der technische Schutz kann keine Erziehung ersetzen.
netzpolitik.org: Das heißt?
Charlotte Horsch: Es ist für Eltern vielleicht verlockend, sich auf das Tracking als Schutz zu verlassen. Nach dem Motto: Wenn was passiert, weiß ich es ja. Das reicht aber nicht. Die Kinder müssen wissen: Wie verhalte ich mich in einer Situation, in der ich nicht weiter weiß? Was mache ich, wenn mich jemand auffordert mitzukommen? Oder wenn ich den Bus verpasst habe? Es geht darum, dass man den Kindern das zutraut und sie darin bestärkt, eigenständig in der Situation zu handeln.
Das Tracking, wenn es zum Einsatz kommt, sollte nur eine zusätzliche Komponente sein und kein Ersatz für die Erziehung der Eltern.
netzpolitik.org: Sie bieten auch Elternabende zu diesem Thema an. Was ist die Hoffnung der Eltern, wenn sie ihre Kinder mit solchen Uhren oder Apps ausstatten?
Charlotte Horsch: Das vermittelt ein Gefühl von Sicherheit. Ich hatte neulich eine Mutter auf einem Elternabend, die meinte: Wenn ich könnte, würde ich mein Kind auch chippen, aber ich darf ja nicht. Das Gerät vermittelt der Mutter: Wenn meinem Kind etwas passiert, kann ich ihm helfen.
„Die Sicherheit kann trügerisch sein“
netzpolitik.org: Stimmt das denn?
Charlotte Horsch: Klar kann das in bestimmten Situationen helfen. Vielleicht steigt das Kind in die falsche Bahn, landet irgendwo und weiß nicht weiter. Da hilft es, wenn ich anrufen kann und sagen: Ich hole dich jetzt ab. Aber die Sicherheit kann trügerisch sein. Kinder können die Geräte ja einfach abnehmen, wenn sie das Tracking der Eltern umgehen möchten. Dann hängt das Kind die Uhr an den Zaun und bewegt sich trotzdem weiter weg, als es darf.
netzpolitik.org: Sehen wie weitere Gefahren, die Eltern beim Einsatz dieser Geräte übersehen?
Charlotte Horsch: Diese Geräte senden Daten und die sind häufig leicht hackbar. Entsprechend ist es wichtig, sich vorher zu informieren: Wo werden die Daten gesichert, wie werden die Daten gesichert? Das machen nicht alle Eltern.
netzpolitik.org: Was könnten andere mit den Bewegungsdaten meines Kindes anstellen?
Charlotte Horsch: Als wirklich schlimmsten Fall kann es sein, dass Personen, die den Kindern nicht wohlgesonnen sind, auf diese Daten zugreifen können. Die sehen dann genauso wie ich: Wo befindet sich mein Kind gerade.
netzpolitik.org: Sie gehen auch regelmäßig in Grundschulklassen und sprechen mit den Kindern. Wie finden die Kinder, dass sie von den Eltern getrackt werden?
Charlotte Horsch: Manche sagen: Ich finde das total gut, weil Mama Bescheid weiß und auf mich aufpasst. Andere fühlen sich überwacht und erzählen mir, wie sie die Uhr an den Zaun hängen, wenn sie den Schulfhof verlassen. So etwas kann dazu führen, dass sich diese Kinder auch später nicht an die Eltern wenden, wenn ihnen etwas geschehen ist – weil sie dann zugeben müssten, dass sie ganz woanders waren. Das sehe ich auch in anderen Bereichen, etwa bei Online-Mobbing oder Cybergrooming…
netzpolitik.org: …wenn also Erwachsene sich Kindern im Netz mit sexuellen Absichten nähern.
Charlotte Horsch: Auch hier können Kinder das Gefühl haben: Ich kann mich nicht an meine Eltern wenden, weil ich dann zugeben müsste, dass ich die Regeln umgangen habe und bestraft werde. Das kann dazu führen, dass die Kinder damit alleingelassen werden.
„Das Tracking wird salonfähiger“
netzpolitik.org: Sie sagten, Kinder haben ein Recht auf Privatsphäre. Rein rechtlich dürfen Erziehungsberechtigte in Deutschland ihre Kinder digital überwachen – auch ohne deren Wissen und Zustimmung. Sollten Kinder ein Recht darauf haben, nicht von ihren Eltern überwacht zu werden?
Charlotte Horsch: Mit Kinderrechten ist es komplex. Kinder haben ein Recht auf Privatsphäre, gleichzeitig müssen Eltern den Schutz des Kindes gewährleisten. Für die Eltern ist das eine Abwägungsfrage: Ist der Schutz gerade wichtiger als das Recht auf Privatsphäre? Manche entscheiden sich dann für das Tracking.
netzpolitik.org: Tracken Eltern ihre Kinder heute häufiger als vor fünf Jahren?
Charlotte Horsch: Vor der Pandemie war das bei Elternabenden kein Thema, seit einigen Jahren schon. Ich habe den Eindruck, dass viele Eltern mehr Sorgen haben, dass dem Kind etwas zustoßen könnte. Zum anderen hat sich der Markt sehr erweitert. Es gibt heute verschiedenste Möglichkeiten Kinder zu tracken – von Smartwatches bis Apps, die verschiedene Kontrollmöglichkeiten bieten.
netzpolitik.org: Wird das Tracking damit normaler?
Charlotte Horsch: Es wird salonfähiger. Vor einigen Jahren haben weniger Eltern von sich aus berichtet, dass sie ihre Kinder tracken. Und es wurde von anderen Eltern kritisch beäugt. Jetzt dreht sich das um: Für viele Eltern ist es ganz selbstverständlich und die Skeptischen werden weniger.
„Diese Geräte verstärken oft die Sorgen der Eltern“
netzpolitik.org: Mehr als die Hälfte der Kinder unter zehn Jahren wird heute noch von den Eltern in die Schule gebracht, andere tracken ihre Kinder digital. Was für ein Bild von Kindern steht dahinter?
Charlotte Horsch: Der gesellschaftliche Umgang mit Kindern ist das eine. Aber vielleicht haben sich andere Dinge geändert: Wie viele Schulbusse gibt es noch auf dem Land? Wie oft müssen die Kinder vielleicht selber gefahren werden? Vielleicht haben sich die Wege tatsächlich verlängert oder sind gefährlicher geworden. Wodurch die Eltern das Gefühl haben, sie müssten ihre Kinder tracken. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass diese Geräte die Sorgen der Eltern oft verstärken.
netzpolitik.org: Wie das?
Charlotte Horsch: Diese Geräte vermitteln immer die Möglichkeit, es könnte etwas passieren. Manche Eltern berichten mir, dass sie das Tracking deswegen von sich aus wieder herruntergeschraubt haben. Weil sie gemerkt haben, dass es ihnen nicht guttut.
Eine Mutter hat mit berichtet, dass sie ganz unruhig war und ständig aufs Handy geschaut hat, wenn ihre Tochter unterwegs war. Die Mutter hat die App dann von ihrem Smartphone gelöscht hat und konnte nur noch auf einem Tablet sehen, wo sich ihre Tochter befindet.
netzpolitik.org: Geht es in Ihren Workshops auch darum, wie Eltern mit ihren Ängsten um die Kinder umgehen könnten – auch ohne ihr Kind zu tracken?
Charlotte Horsch: Ich bin offen den Eltern gegenüber, dass ich das Tracking sehr kritisch sehe, mit dem Blick darauf, was das mit den Kindern macht. Gleichzeitig versuche ich herauszufinden, woher die Sorgen kommen. Wo sind sie berechtigt und wo weniger rational?
Ich öffne dann die Runden und lasse Eltern miteinander reden. Da kommt es eigentlich immer zu kontroversen Diskussionen. Mir ist wichtig, dass nicht nur ich als die Medienpädagogin vorne stehe und den Eltern sage, wie sie es am besten machen. Das ist nämlich von der Familie abhängig. Jedes Kind ist anders, jede Familie ist anders. Das betrifft alle Bereiche der Medienerziehung. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, sondern man muss immer abwägen: Was funktioniert für uns?
netzpolitik.org: Wie reagieren Eltern denn, wenn sie von den Folgen des Trackings für die Kinder sprechen?
Charlotte Horsch: Manche verschließen sich dann und betonen, wie gut ihr Verhältnis zum Kind ist und wie groß das Vertrauen. Dass es für das Kind überhaupt kein Problem sei, dass die Mutter immer weiß, wo es sich aufhält. Andere kommen tatsächlich ins Nachdenken. Die kommen dann nach der Veranstaltung nochmal zu mir und stellen Fragen.
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