1 month ago

Gespaltenes Land: Das andere Georgien abseits der Demos – wo Russland nicht der Feind ist



In den Städten Georgiens demonstrieren Nacht für Nacht Tausende gegen den prorussischen Kurs der Regierung. Doch auf dem Land ist der Kreml nicht unbedingt der Feind. 

Seit mehr als einer Woche erlebt Georgien die heftigsten Demonstrationen seit zwei Jahrzehnten. Und wer seine Zeit unter den zehntausenden Demonstranten in Tiflis verbringt, die gegen die Entscheidung ihrer Regierung demonstrieren, die Beitrittsverhandlungen mit der EU bis 2028 zu pausieren, dem scheint die Lage klar: Ein von Russland kontrollierter Oligarch hat mit seiner Partei die Macht usurpiert, die Wahlen gefälscht, um das Land mit seinen knapp vier Millionen Einwohnern nun im Auftrag Putins zurück in Moskaus Einflussbereich zu führen. 

Tatsächlich sprechen auch Beobachter der OSZE von Unregelmäßigkeiten bei der Wahl. Tatsächlich werden Oppositionelle verhaftet, geht die Polizei teilweise brutal gegen die Demonstranten vor. Aber wer eine Stunde aus der Millionenstadt Tiflis herausfährt, der begegnet Georgiern, die eine sehr andere Sicht auf die Lage haben, eine Sicht, die zeigt, dass auch Georgien, wie viele Länder am Rande des russischen Orbits, gespalten ist; zwischen denen, die keinesfalls wieder unter die Kontrolle des Kreml möchten – und anderen, die sich zumindest damit arrangieren könnten. 

Georgien – das sind auch Schweine am Straßenrand, Weinstöcke im Garten

Die Autobahn führt heraus aus Tiflis Richtung Nordwesten, vorbei an der knapp 3000 Jahre alten Stadt Mzcheta, bald taucht im Norden der verschneite Gipfel des Fünftausenders Kasbek auf, über dessen Gipfel die Staatsgrenze mit Russland verläuft. Es gibt Abzweigungen, die über einen Bergpass ins russische Wladikawkas führen, in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku oder ins armenische Jerewan. Wer geradeaus weiterfährt, erreicht die georgische Hafenstadt Batumi. Wir aber biegen nach 70 Kilometern rechts von der Autobahn auf eine asphaltierte Straße ab, eine Abzweigung nach Kwemo Chala, ein Tausend-Seelen-Dorf, Weinstöcke in den Gärten, hier frisst ein Schwein am Straßenrand, dort grasen ein paar Kühe. 

Proteste Georgien 18.40

Aber Kwemo Chala ist ein besonderes Dorf. Wer auf dieser Straße noch zwei Kilometer weiterfährt, trifft auf russische Grenzsoldaten: Hier verläuft die Grenze zu Südossetien, das sich Anfang der 90er Jahre für unabhängig erklärte und seitdem von Russland "geschützt" wird. 2008 versuchte Georgien, das Gebiet zurückzuerobern, Russland schlug den Angriff damals zurück und ließ seine Panzer ein paar Kilometer weiter in Richtung Tiflis rollen. 

Der Dorfbewohner Dato, der mit Rollkragenpulli und Jeans vor seinem Haus steht und mit zwei Freunden palavert, erinnert sich noch gut daran, wie die russischen Schützenpanzer damals ins Dorf einrückten. Kämpfe gab es hier zum Glück keine. Aber das Thema beschäftigt ihn, besonders seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. "Russland ist groß", sagt der 63-Jährige. "Die EU und die USA kämpfen doch seit zwei Jahren gegen Russland und können es nicht besiegen. Und hier will niemand Krieg mit Russland."

Regierungspartei nutzt Ukraine-Krieg als Wahlkampfmunition

Der "Georgische Traum", die Regierungspartei des Milliardärs Bidsina Iwanischwili, hatte den Ukraine-Krieg im Wahlkampf gnadenlos ausgenutzt: Bilder einer zerstörten ukrainischen Schule und einer renovierten georgischen Schule waren da zu sehen, dazu die Frage: Wähle Krieg oder Frieden? Die Opposition wurde als Kriegspartei dargestellt, die im Auftrag des Westens eine "zweite Front" gegen Russland eröffnen werde. Hier, ein paar Gehminuten von den russischen Grenzern entfernt, fällt die Angstkampagne offenbar auf besonders fruchtbaren Boden.

Georgien ist zwar ein relativ urbanes Land: Etwa zwei Drittel der Bevölkerung lebt in Städten. Und nicht nur in Tiflis, sondern auch in Batumi und Kutaissi demonstriert man gegen die Regierung. Aber die konservative Landbevölkerung hat überdurchschnittlich dazu beigetragen, dass der "Georgische Traum" selbst nach Schätzungen der Opposition bei der Wahl auf gut 40 Prozent gekommen ist.

Dato kann denn auch kein schlechtes Wort über die Regierung finden. Gegenüber seinem Haus gibt es seit drei Jahren einen Fußballplatz mit Kunstrasen, der Kindergarten wurde renoviert, das Dorf wurde endlich wieder an die Wasserversorgung angeschlossen und die Straßenbeleuchtung funktioniert wieder – das gab es zuletzt zu Zeiten der Sowjetunion. Eine kleine Fabrik hat aufgemacht, die Heilkräuter verarbeitet. "Wer nicht faul ist, kann leben", sagt Dato. Sein Nachbar erzählt von seiner Rente: 315 Lari bekommt er jetzt, etwa 100 Euro, ab 70 Jahren wird er 450 Lari bekommen. Wenig, aber immerhin jedes Jahr fünf bis zehn Prozent mehr, wie er sagt.

Dato selbst ist nach 35 Jahren wieder aus Tiflis ins Dorf zurückgezogen und baut jetzt an, was er zum Leben braucht, allem voran die gerühmte lokale helle Traubensorte Chinuri: "500, 600 Liter, für den Eigengebrauch", wie er sagt. Jene, die da in Tiflis demonstrieren, hält er für Nichtsnutze. "Ja, wir wollen nach Europa, aber nicht, wenn man uns erpressen will! Wir sind ein Land mit einer großen Geschichte!"

Überbordender Nationalstolz

Die Worte über die "große Geschichte" hört man in Georgien ganz egal in welchem politischen Lager. Der überbordende Nationalstolz dieses kleinen Landes im Südkaukasus entbehrt zuweilen nicht einer gewissen Komik. Tatsächlich hat dieses Land eine Jahrtausende alte Geschichte. Schräg gegenüber von Datos Haus rottet der Palast einer Fürstenfamilie vor sich hin, oben auf dem Hügel ist eine Festung aus dem 14. Jahrhundert zu sehen. Dort in der Gegend sind aber schon russische Grenzer unterwegs.

Auch Inga, die Kassiererin im Dorfladen ein paar hundert Meter weiter an der Straße, erzählt gerne von der Geschichte ihres Landes, etwa von der georgischen Königin Tamara, die im 12. Jahrhundert einen russischen Prinzen heiratete, der sich aber lieber mit Männern vergnügte und von dem sie sich deshalb scheiden ließ. "Wir sind ein christlich-orthodoxes Volk. Und bei uns ist eine Ehe eben zwischen Mann und Frau. Und niemand soll uns zu etwas anderem zwingen", sagt die resolute 59-Jährige mit dem Kurzhaarschnitt. 

Ukraine IV Franz-Stefan Gady 5:56

Das Thema LGBT-Rechte hatte die Regierungspartei über die letzten Jahre im Stile von Wladimir Putin und Viktor Orbán ausgeschlachtet: Im Oktober verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die Propaganda von gleichgeschlechtlichen Beziehungen verbietet und nach dem im Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen in Georgien nicht anerkannt werden. Bei konservativen Georgiern wie Inga kommt das gut an. 

Aus Russland kommen günstige Lebensmittel

Ingas 28-jähriger Sohn ist seit drei Jahren in der EU, gerade musste er allerdings in die Ukraine ausreisen, weil Georgier sich nur für drei Monate am Stück in der EU aufhalten dürfen. 

Auch Inga will, dass Georgien EU-Mitglied wird, aber ihr gefällt nicht, dass das Ausland versuche, Georgien Befehle zu erteilen. "Deutschland oder Frankreich kann auch niemand sagen, was es zu tun hat. Wir wollen auch selber entscheiden. Georgien ist ein bedeutendes Land", sagt sie. 

GeorgienInga hat wenig mit den Demonstranten in der Stadt gemein, sie sieht sich selbst als konservativ
© Moritz Gathmann

Von den Protesten in Tiflis hält Inga nichts. "Die sind nicht friedlich. Und Frieden ist für uns das Wichtigste", sagt sie. Besonders übel nehme sie es der Opposition, dass die angeblich Kinder in die vorderen Reihen schicke. "Die gehen da nicht von selbst hin", ist sie überzeugt. "Die Opposition nutzt kleine Kinder für ihre Zwecke aus!" Die Opposition selbst bekomme ihre Kommandos aus dem Ausland, das sie ja auch deswegen finanziere.

 "So schlecht die Wahlen gewesen sein mögen, aber die Regierung hat ja doch eine Mehrheit bekommen", ist Inga überzeugt. Und die Opposition sollte die Wahl der Menschen respektieren. Kennt sie Menschen, die auf die Proteste gehen? "Nein, aber die Männer von meinen Freundinnen stehen dort und verteidigen unsere Heimat!" Damit meint sie die Polizisten. 

PAID Proteste Georgien nach Wahl 9:35

Die Bewohner von Kwemo Chala legen ihre Lebensmittel auf den Kassentisch von Inga, darunter Milchprodukte, Fleischkonserven, Chips und Gebäck aus russischer Produktion. Seit der (weitgehenden) Normalisierung der Beziehungen zum großen nördlichen Nachbarn sind nicht nur russische Touristen, sondern auch russische Lebensmittel wieder zum Normalfall geworden, ganz einfach, weil sie günstig sind. Auch wenn es Georgier gibt, besonders in den Städten, die aus Prinzip nichts Russisches kaufen. 

Inga hat übrigens auf den Krieg von 2008 auf ganz eigene Weise reagiert: Sie hat ihren Sohn in den Russisch-Unterricht geschickt. Schulterzuckend sagt sie: "Man muss die Sprache des Feindes kennen."

Gesamten Artikel lesen

© Varient 2025. All rights are reserved