AfD und BSW pflügen die politische Landschaft um. Die etablierten Parteien müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Aber die Wähler auch.
Zugegeben, ich habe mich geirrt. Im Juni 2023 habe ich hier über eine mögliche Parteigründung von Sahra Wagenknecht geschrieben: Sie "finge bei null an, auch wenn ihr Umfragen ein beachtliches Potenzial vorhersagen. Ins Europaparlament würde eine Wagenknecht-Partei wohl einziehen. Und dann? Sie kann ja nicht überall als Kandidatin antreten. Parteien brauchen nicht nur Spitze, sondern auch Breite, um erfolgreich zu sein. Mich würde es nicht wundern, wenn der Satz von einer Zukunft ohne Sahra Wagenknecht alsbald nicht nur für die Linke gelten würde, sondern für die deutsche Politik insgesamt."
Eine Zukunft ohne Wagenknecht? Danach sieht es nicht aus nach dem Wahlsonntag in Thüringen und Sachsen. Im Gegenteil. Das BSW könnte bald in Erfurt und Dresden an den Kabinettstischen sitzen. Wagenknecht muss gar nicht als Kandidatin antreten. Ihr Name allein ist vielen Menschen Programm genug. Sie ist nirgends dabei, aber immer mittendrin.
Nicht nur wegen meines Irrtums hat mich das Ergebnis der Landtagswahlen konsterniert zurückgelassen. Auch weil die Parteienlandschaft in Thüringen und Sachsen wie mit dem Spaten umgegraben wirkt. Auch weil Koalitionen in Aussicht stehen, auf die zu wetten einen früher reich gemacht hätte. Was mich besonders beschäftigt, ist der Umgang mancher Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Demokratie.
Blitzanalyse Thüringen Sachsen 1940
Das BSW und die AfD haben in beiden Ländern starke Ergebnisse erzielt. Das bedeutet, bei allen Unterschieden zwischen den beiden Parteien, dass mit dem Angebot an Populisten auch die Zahl ihrer Wähler wächst. Die Erwartung, das BSW werde im Potenzial der AfD wildern und Stimmen von Wählern gewinnen, denen die Rechtsextremen zu schmuddelig sind, hat sich nur in geringem Maße bewahrheitet. Und diese Verluste haben der AfD nicht geschadet, weil sie sich bei anderen Parteien schadlos hielt. Der Aufstieg des BSW geht also nicht zulasten der AfD. Beide haben gewonnen.
Höhere Wahlbeteiligung, doch die Demokratie leidet
Populismus scheint populärer zu werden, wenn das Angebot steigt. In Sachsen und Thüringen kommen AfD und BSW zusammen jeweils fast auf die Hälfte der Stimmen. Obwohl sie mit dem Ukrainekrieg und der Migration auf dieselben Themen setzten, haben sie nicht wirklich konkurriert. Ihr Stimmenanteil stieg parallel, fast wie in kommunizierenden Röhren. Es gab dieses Phänomen übrigens schon in einem Land, wo man es gar nicht vermuten würde: Bayern. Bei der Landtagswahl 2023 legten die von Hubert Aiwanger rechtspopulistisch geführten Freien Wähler um 3,9 Prozentpunkte zu, aber die AfD eben auch, sogar um 4,4 Prozentpunkte.
Es gibt einen positiven Effekt des populistischen Angebots, den man nicht verschweigen sollte: Die Wahlbeteiligung nimmt wieder zu. Das stärkt die Demokratie, weil die größte Partei nicht mehr wie häufig bei zurückliegenden Wahlen die Partei der Nichtwähler ist. Und gleichzeitig leidet die Demokratie daran, wenn von der höheren Beteiligung Parteien profitieren, die entweder das demokratische System mindestens verändern, wenn nicht umstülpen wollen wie die AfD, oder selbst einem hermetischen Ein-Personen-Autoritarismus frönen wie das BSW mit seiner Alleinherrscherin Sahra Wagenknecht.
STERN PAID 36_24 Recherche Rechtsextreme AfD 9:46
Es ist nun viel die Rede davon, dass man den Menschen mehr zuhören, ihre Sorgen ernst nehmen müsse. Alles richtig. Natürlich haben Parteien, zumal die in Regierungen, Verantwortung für die Demokratie. Aber die Bürgerinnen und Bürger auch.
Oder irre ich mich schon wieder?