Der Bundespräsident ruft die Ampel-Koalition zurück an die Werkbank. Der Appell kommt zur rechten Zeit. Nach Solingen ist wieder Ernsthaftigkeit gefordert.
Der Bundespräsident hat einen deutlichen Appell an die Regierung gerichtet. Das kommt selten vor, weil Frank-Walter Steinmeier das seinem Amt traditionell auferlegte Gebot der tagespolitischen Zurückhaltung sehr eng auslegt, für meinen Geschmack zu eng. Diesmal aber hat er unmissverständlich formuliert: Es müsse Schluss sein mit der "Selbstzerknirschtheit" der Ampel, mit dem Gerede von einer Übergangsregierung und mit Spekulationen über andere Koalitionen. Steinmeier, Sohn eines Tischlers, rief der Ampel zu: "Zurück an die Werkbank!"
Der Appell kommt zur rechten Zeit: Die Ampelkoalition befindet sich an der Grenze zur Politikunfähigkeit, während das Attentat in Solingen von der Regierung das Gegenteil erfordert – in erster Linie von den drei Führungsleuten Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner.
Zurück an die Werkbank: Das ist eine bemerkenswerte Formulierung, weil nur zurückkehren kann, wer sich entfernt hat. Der Bundespräsident bringt damit einen Eindruck auf den Punkt, der sich in den vergangenen Wochen gerade im Führungstrio sehr verfestigt hat: Die Koalitionäre verwenden mehr Energie darauf, sich gegenseitig zu piesacken und hinterher dann den schlechten Umgang miteinander zu beklagen, statt auf ihre eigentliche Arbeit. Auf diese Weise sind zum Beispiel im Haushalt zwölf Milliarden Euro ungedeckt geblieben, was der Vizekanzler Robert Habeck nur mit einem rhetorischen Achselzucken kommentierte: "Is’ halt so, ne."
Die Ampel: Von der Zweckbeziehung zur Zerreißprobe
In dieser eigenen Mischung aus Larmoyanz, Überdruss und Ratlosigkeit taumelte die Ampel zuletzt dem Ende der parlamentarischen Sommerpause entgegen und ist nun aber in noch urlaubsreiferem Zustand herausgekommen. In Thüringen und Sachsen erwarten sie absehbar desaströse Wahlergebnisse. Und dahinter zeichnet sich das Abendrot des Ampeluntergangs ab, früher oder später. Eher früher.
Koalitionen sind komplexe Geflechte von der Regierung abwärts über die Parteien, ihre Fraktionen bis zu einzelnen Abgeordneten hin. Doch wenn die Spitzenleute harmonieren, können selbst Koalitionen funktionieren, an deren Anfang der Satz stand, es handele sich nicht um eine Liebesheirat, sondern eine Zweckbeziehung. So wie bei der Ampel. Scholz, Habeck und Lindner haben sich lange bemüht, jenseits politischer Unterschiede eine gewisse Ernsthaftigkeit gegenüber der Aufgabe zu zeigen und über alle Widrigkeiten hinweg Zusammenhalt zu simulieren. Jetzt schwindet auch das.
Gerhard Schröder und Joschka Fischer waren die letzten Koalitionsführer, die ein gemeinsames, wenn auch simples Projekt wirklich einte: Sie wollten den selbstverständlichen Machtanspruch der Konservativen brechen. Angela Merkel und Guido Westerwelle glaubten nur, sie führten eine Wunschkoalition, bis die politische Lebenswirklichkeit das Gegenteil bewies. In den großen Koalitionen war das Miteinander von Angela Merkel mit diversen SPD-Vizekanzlern immerhin von Respekt geprägt. Aber die Ampel? War nie eine Wunschkoalition, hatte kein Projekt – und jetzt mangelt es auch noch an Respekt.
Nach Solingen steht die Regierung vor einer großen Aufgabe. Es klänge zynisch, von ihrer letzten Chance zu reden. Scholz, Habeck und Lindner müssen gemeinsam Antworten geben auf die Ängste der Menschen. Wenn es vernünftige Antworten sind, könnten sie sich auch von so mancher überzogenen Forderung der Union absetzen. Ein Satz aber ist diesmal keine Antwort mehr: "Is’ halt so, ne."