Russland greift gebietsweise deutlich seltener mit Panzern an. Möglicherweise müssen die Kreml-Truppen mittlerweile sparsamer mit ihren Beständen umgehen. Noch sind die Depots zwar gefüllt, Verluste wie 2024 kann sich Moskau laut einer US-Denkfabrik aber wohl nicht mehr ewig erlauben.
Einem ukrainischen Armeesprecher zufolge setzt die russische Armee in Richtung Kurachowe in der Region Donezk bei Angriffen keine gepanzerten Fahrzeuge mehr ein - und wenn doch, lediglich zur Feuerunterstützung. "Die Russen halten ihre gepanzerten Fahrzeuge so weit wie möglich weg, weil sie große Angst vor unseren Panzerabwehrraketensystemen haben", sagt Orest Drymalovskyi zu ArmyTV. Stattdessen würden die Kreml-Truppen auf Infanterie setzen.
"Der Feind führt jeden Tag Angriffsoperationen durch. In den letzten Wochen vor allem mit Infanteriekräften. Sie greifen in kleinen Angriffsgruppen von drei bis fünf Mann an, die versuchen, sich unbemerkt unseren vorgeschobenen Stellungen zu nähern, sie zu beschießen und zu erkunden. Das gelingt ihnen nur selten, und in der Regel werden die Besatzer bei diesen kannibalistischen 'Fleisch'-Angriffen getötet. Sie verbrennen einfach ihr Personal", teilt der Sprecher mit.
Das Institut für Kriegsstudien (ISW) berichtet, dass Russland seine Kampfpanzer und Schützenpanzer möglicherweise angesichts der schwindenden sowjetischen Bestände schonen möchte. Im Februar 2024 hat die britische Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS) mitgeteilt, dass Russland wahrscheinlich in der Lage sei, seine Fahrzeugverluste für mindestens zwei bis drei Jahre aufrechtzuerhalten, indem es hauptsächlich Fahrzeuge aus sowjetischen Lagern aufarbeite. Das ISW hält diese Schätzung mittlerweile für nicht mehr gültig - wegen der extrem hohen Verluste.
Verluste "mittelfristig nicht tragbar"
So sollen 2024 nach unabhängig nicht überprüfbaren Angaben aus Kiew über 3500 russische Kampfpanzer und fast 9000 gepanzerte Fahrzeuge wie Schützenpanzer zerstört oder beschädigt worden sein. Verlustzahlen, die für die Kreml-Trumpen laut ISW wohl "mittelfristig nicht tragbar sind".
"Es erscheint immer unwahrscheinlicher, dass das russische Militär eine derzeitige jährliche Verlustrate von fast 9.000 gepanzerten Fahrzeugen 2025 aushalten kann", heißt es von der US-Denkfabrik. Das könnte bedeuten: Russland setzt möglicherweise weniger Fahrzeuge bei Angriffen ein, um nicht Gefahr zu laufen, dass die Bestände bedrohlich klein werden.
Michael Kofman von der US-Denkfabrik CNA teilt gegenüber "Forbes" mit, die Russen würden vorrangig auf Infanterie setzen, "um Ausrüstungsverluste zu verringern, aber auch wegen der generellen Unfähigkeit, vorbereitete Verteidigungsanlagen zu überwinden, die durch allgegenwärtige Geheimdienstinformationen und Drohnenangriffe unterstützt werden". Verstreute Infanterie sei schwerer zu treffen als lange Fahrzeugkolonnen, so Kofman.
Vorkriegsreserven sind wohl deutlich geschrumpft
Seit Jahresbeginn und auch an vielen Tagen im Dezember lag die Zahl der von Kiew gemeldeten russischen Verluste an Kampfpanzern nur noch im niedrigen oder mittleren einstelligen Bereich. Auch dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Kreml-Truppen ihr schweres Kriegsgerät derzeit seltener in oft verheerend verlaufende Angriffe schicken.
Laut einem OSINT-Experten, der einsehbare russische Militärdepots über Satellitenbilder verfolgt, verfügen die russischen Streitkräfte noch über 47 Prozent ihrer Vorkriegsreserven an Kampfpanzern sowie 52 Prozent der Vorkriegsreserven an Schützenpanzern. Die verhältnismäßig modernen T-90- und T-80-Kampfpanzer sollen dabei schon aus den Lagern geholt worden sein.
Viele ältere Modelle wie T-72-, T-64/62- oder T-54/55 stünden noch in den Depots, heißt es. Diese seien aufgrund der Witterung vermutlich jedoch oft in schlechtem Zustand. Teilweise werden sie wohl ausgeschlachtet, um andere Panzer zu reparieren. Möglicherweise verfügen die russischen Streitkräfte auch über zusätzliche Fahrzeuge in verdeckten Lagern, die nicht analysiert werden können.
Industrie kann Verluste nicht ausgleichen
Darüber, dass Neuproduktionen und Instandsetzungen die hohen Verluste bei Weitem nicht ausgleichen können, sind sich Experten schon länger einig. Nach einer Analyse von Marc De Vore von der Universität St. Andrews und Alexander Mertens, Professor an der Kiew-Mohyla-Akademie, kann Russland aufgrund eines Mangels an Drehwalzen nur 20 neue Kanonenrohre monatlich produzieren.
Der ukrainische Militärbeobachter Kostyantyn Mashovets schrieb im Februar 2024 auf Telegram, dass die russische Verteidigungsindustrielle Basis lediglich 250 bis 300 "neue und gründlich modernisierte" Kampfpanzer pro Jahr produzieren und etwa 250 bis 300 zusätzliche beschädigte Kampfpanzer pro Jahr reparieren könne.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius nannte im Dezember im Bundestag höhere Zahlen. "Russland hat vollständig auf Kriegswirtschaft umgestellt und stellt der Armee jedes Jahr 1000 bis 1500 Panzer auf den Hof. Das sind etwa doppelt so viele, wie die größten fünf europäischen Länder zusammen überhaupt im Bestand haben." Auf Nachfrage von ntv.de teilt ein Sprecher des Ministeriums mit, die von Pistorius genannte Zahl beinhalte neu produzierte, "refurbished" und instand gesetzte Kampfpanzer.