Joe Biden erlaubt ATACMS-Angriffe auf russischem Boden und Wladimir Putin erweitert seine Atomdoktrin. Droht eine Eskalation? Nein, sagt Ex-Kreml-Diplomat Boris Bondarew. Für ihn liegen die Risiken dieses Krieges an anderer Stelle.
ntv.de: Herr Bondarew, seit der Reichweitenfreigabe für ATACMS durch den amerikanischen Präsidenten schauen viele Menschen etwas besorgt in Richtung Moskau. Außerhalb des Kreml werden Akteure mit markigen Aussagen zitiert. Angehörige des Parlaments warnen, dieser Schritt könnte in den Dritten Weltkrieg führen.
Boris Bondarew: Moment, Sie sagen "Akteure"?
"Akteure" ist übertrieben. Sagen wir mal, es sind Stimmen. Zitiert werden zum Beispiel ein Wladimir Dschabarow, der im Oberhaus Vize-Chef des Auswärtigen Ausschusses ist, und die ehemalige Spionin und jetzige Duma-Abgeordnete Maria Butina.
Ich frage nur nach, um klarzumachen: Es gibt in Russland außerhalb des Kremls keine Akteure. Als Politiker in Russland sagen Sie entweder, was der Kreml will, oder Sie sagen gar nichts. Wenn sich sogenannte unabhängige Experten oder Forschungsinstitute aus Moskau zu Wort melden, dann sind sie nicht unabhängig. Sie geben nur eine Variante des Kreml-Narrativs wieder.
Diese Variante geht dann vielleicht etwas weiter und klingt aggressiver, als der Kreml es selbst formuliert?
Aggressiver ja, aber niemals moderater. Wenn Sie sich an den Moment erinnern, als die USA den Ukrainern HIMARS-Raketen geschickt haben: Schon damals wurde auf dem Telegram-Kanal von Ex-Präsident Dimitri Medwedew geheult, dass jetzt der Dritte Weltkrieg beginnt.
Allerdings, Medwedew nimmt im Westen tatsächlich niemand mehr ernst. Wirkt der nicht eher belustigend?
Ja, schon. Aber es besteht letztlich kein Unterschied zwischen Medwedew und denjenigen, die Sie eben nannten, die in deutschen Medien durchaus zitiert werden. Die Aussagen sind auf demselben Niveau, sie haben dasselbe Gewicht, verstehen Sie? Dschabarow, Butina - das sind Leute mit null Verantwortung. Ihre Meinung hat null Relevanz. Sie dürfen mal sprechen, damit sie sich wichtig fühlen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und Medwedew ist: Medwedew scheint irre zu sein oder er spielt den Irren. Da erscheint Putin im Vergleich nachgerade psychisch gesund.
Plädieren Sie dafür, dass die westlichen Unterstützer der Ukraine nur noch die Aussagen von Dmitri Peskow ernstnehmen, dem Kreml-Sprecher?
Nein. Sie sollen die Aussagen von niemandem ernst nehmen. Das lehrt ein Blick in die Vergangenheit. Jedes Mal, wenn westliche Staaten der Ukraine erlaubt haben, neue Waffen einzusetzen - etwa HIMARS, reichweitenstarke Raketen, lenkbare Artilleriegeschosse vom Typ Excalibur, französische Haubitzen, Leopard Panzer, Abrams Panzer - jedes Mal sagte der Kreml dann vorher: Das ist eine rote Linie. Wir werden darauf antworten, wir haben Atomwaffen. Aber die Antwort erfolgte dann immer im Rahmen dessen, was Russland schon gezeigt hatte. Es waren "gewöhnliche" Reaktionen, wenn Sie so wollen. Die Armee warf Bomben auf ukrainische Städte, auf ukrainische Infrastruktur, auf alles, was man zerstören kann. Aber es blieb konventionell.
Jüngst hat der Kreml seine Nukleardoktrin erweitert, die Szenarien aufzählt, in denen Russland Atomwaffen einsetzen könnte. Ein Szenario, das neu dazu kam: Moskau wertet die Aggression eines nichtnuklearen Staates, der sich von Atommächten unterstützen lässt, als einen gemeinsamen Angriff auf Russland. Unterstützung heißt somit: Kriegseintritt, heißt: Atomdrohung, heißt: Russland kann sich atomar zur Wehr setzen. Ist das ein beunruhigender Schritt?
Das ist eine weitere Variante, um in den westlichen Staaten Angst zu verbreiten. Eine Nukleardoktrin für den Kreml ist völliger Quatsch, sie macht überhaupt keinen Sinn. Putin braucht keine Doktrin. Putins Wünsche sind die Doktrin. In den USA ist das anders: Da ist man der Steuern zahlenden Bevölkerung gegenüber Rechenschaft schuldig und muss zeigen, dass der Präsident nicht tun kann, was er will. Es gibt Regeln. Auch solche, die den Einsatz von Nuklearwaffen betreffen. Das Agieren wird damit vorhersehbar, weil es auf diesen Regeln, auf der Doktrin, basieren muss. Putin braucht sowas nicht. Selbst wenn er in Kursk auf russischem Boden eine Atombombe zünden lassen will, kann er das tun.
Dann ist die Nukleardoktrin eher als Botschaft an den Westen zu verstehen?
Ausschließlich als das. Sie sollen sich Gedanken machen: Uiuih, der Kreml hat seine Doktrin angepasst. Uiuih, sie haben die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen gesenkt. Dann sind wir jetzt mal lieber vorsichtig. Sogar der französische Präsident Macron wird immer vorsichtiger - und er war einige Zeit lang der forscheste der westlichen Regierungschefs. Im Februar warf er in den Raum, auch die Entsendung von Soldaten könnte eine Option sein. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hat sofort abgewunken. Und Macron hat es seither nie wieder erwähnt.
Aber nach Ihrer Theorie kann das doch trotzdem sinnvoll gewesen sein. Er hat nichts anderes als Putin gemacht: Erst drohen und hinterher doch nicht agieren. Macht eine leere Drohung den Gegner nicht unsicherer, als wenn man erklärt, was man alles auf keinen Fall tun wird?
Das schon, aber mir fehlt im Westen die Diplomatie. Das ist eine Kunst, die etwa Otto von Bismarck sehr gut beherrschte. Er hat gesagt, wenn ich mit einem Gentleman verhandle, bin ich 150 Prozent Gentleman. Spreche ich aber mit einem Gauner, dann bin ich 150 Prozent Gauner. Diplomatie muss in der Lage sein, ihre Botschaft an jedes Gegenüber zu übermitteln. Gegenüber Putin jedoch scheut sich der Westen vor klaren Ansagen. Es gibt eine einzige Sache, vor der man sich im Westen nicht scheut: die eigene Angst zu zeigen. Dabei ist wichtig zu bedenken, dass die USA, Europa, die Ukraine und Russland hier nicht in einem Vakuum agieren. Es schauen sehr viele aus der Entfernung zu. Und einige dieser Zuschauer freuen sich zu sehen, wie Europa in diesem Krieg versucht, Herausforderungen zu vermeiden.
Sie sagen, die westlichen Ukraineunterstützer vermeiden klare Ansagen. "As long as it takes", sagt etwa Kanzler Scholz, wir unterstützen "so lange wie nötig". Als Ansage nicht klar genug?
Die Hauptfrage für das dritte Kriegsjahr, das bald zu Ende geht, bleibt: Was erhofft man sich vom Ausgang dieses Krieges? Europa hat ihn nicht angefangen, es ist nicht eure Schuld. Aber Europa will, dass er endet. Bloß wie? Was wollen die Ukraine-Unterstützer als Ergebnis sehen? Wie soll die Zukunft Europas, Russlands und der Ukraine nach Ende des Krieges aussehen? Das ist die Schlüsselfrage, die man beantwortet haben muss, bevor man damit beginnt Putin zu konfrontieren, Putin zu besänftigen, Putin zu bekämpfen - was auch immer. Keiner der europäischen Staats- und Regierungschefs hat diese Frage beantwortet, keiner hat eine Vision, einen Plan. Sie reagieren nur und kommen dadurch nicht in die Initiative.
Wie sähe Ihrer Ansicht nach die Initiative im Kampf gegen die Atommacht Russland aus?
Die europäischen Staatschefs denken nur vor allem darüber nach, wie sie den Krieg beenden können - anstatt das Problem vollständig zu lösen. Mit anderen Worten: Sie wollen die Symptome kurieren, aber nicht die Krankheit. Die Ursache für diesen Krieg und die nukleare Bedrohung, die er mit sich bringt, ist wohlbekannt: Wladimir Putin und seine Diktatur. Ohne dieses Problem zu lösen, werden Sie nicht weit kommen. Der erste notwendige Schritt wäre, zuzugeben, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss. Nicht überleben, keine Zugeständnisse an Russland machen, sondern den Krieg gewinnen und Putin verlieren lassen.
Das weiße Haus hat nun mit der ATACMS-Erlaubnis einen Schritt nach vorn gemacht und der Kreml verweist auf seine Nukleardoktrin. Könnte das den Krieg auf ein neues Level heben, während Selenskyj erste Zugeständnisse macht?
Man kann den Krieg nicht verhindern, in dem man sagt, wir wollen keinen Krieg. Je mehr Sie sich dem Aggressor beugen, umso aggressiver wird er. Die ATACMS sind keine Wunderwaffen und die Ukraine hat nicht viele bekommen, ein paar Dutzend. Einige davon wird Russland abschießen, einige verfehlen ihr Ziel, ein paar werden treffen. Aber es sind so viele Ziele entlang der Frontlinie, hunderte Militärbasen, Stützpunkte, Flugplätze, Waffenlager. Das wird kaum einen Unterschied machen. Noch eines ist wichtig: Putin ist kein Prophet, der sein Leben hingeben würde für die Sache, für irgendeine Idee. Darum glaube ich nicht, dass er einen Atomkrieg provozieren würde. Denn das wäre komplettes Neuland. Niemand weiß, was dann passiert.
Dann verstehen Sie die Drohungen aus Moskau eher als Drohung Nummer 22 und Nummer 23 in einer langen Liste von Drohungen seit Beginn der Invasion vor 1001 Tagen?
Exakt so verstehe ich sie.
Sie haben zu Beginn gesagt, außerhalb des Kreml gibt es keine weiteren Akteure, keine Stimmen. Wie ist es innerhalb der Kreml-Mauern? Sie haben selbst jahrelang als Kreml-Diplomat gearbeitet. Gibt es dort entscheidende Akteure? Sind dort Stimmen, die Präsident Wladimir Putin tatsächlich anhören würde vor einer weitreichenden Entscheidung?
Wenn Putin im Kreml einen Plan präsentieren würde, etwa in Estland einzumarschieren, und er fragt seine Minister: Was haltet ihr davon? Dann ist es ihre Pflicht zu erklären, warum das eine gute Idee ist, und wie man sie umsetzen könnte. Niemand würde widersprechen. Niemand sagt, Wladimir Wladimirowitsch, das ist vielleicht gar keine so gute Idee. Wenn die Absicht ungeheuerlich ist, etwa eine Atombombe auf die Ukraine, dann könnten ein paar kühle Generäle vielleicht Zweifel anmelden und aufzeigen, dass der Nutzen geringer wäre, als erwartet, und die Konsequenzen womöglich schlimmer. Es wäre maximal möglich, Putins Entscheidung noch etwas anzupassen. Das war es. Der Präsident weiß, wohin er das Land führen will. Alle anderen folgen ihm.
Mit Boris Bondarew sprach Frauke Niemeyer