Der australische Ex-General und Militärstratege Mick Ryan veröffentlicht wöchentlich Analysen zur Lage im Ukraine-Krieg. Ryan hat ein neues Buch über die Rolle von Strategie und Anpassung im Ukraine-Krieg geschrieben. Am Rande einer Veranstaltung der Democratic Strategy Initiative in Berlin sprach er mit ntv.de über seine Einschätzung der Kursk-Offensive und die strategischen Lehren, die die NATO-Länder aus der Militäroperation ziehen sollten.
ntv.de: In der von der Ukraine besetzten russischen Grenzregion Kursk hat Russland in dieser Woche einen Gegenangriff unternommen. Wie lief es für die Russen und was sagt uns dieser Versuch über die Zukunft der Region?
Mick Ryan: Die Russen scheinen langsam ihre Kräfte zu mobilisieren, um auf den Einfall der Ukrainer in Kursk zu reagieren. Während der russische Gegenangriff anfänglich erfolgreich war, scheint es, dass die Ukrainer diesen abwehren konnten: Nicht nur haben sie im westlichen Teil des Frontvorsprungs einen Gegenangriff durchgeführt, sondern sind auch auf einer anderen Achse, etwas weiter westlich, in Russland eingedrungen. Das gefährdet wiederum die Flankensicherheit der Russen. Tatsächlich könnten die Russen an beiden Flanken in diesem westlichen Teil des ukrainischen Frontvorsprungs in Kursk in Schwierigkeiten geraten.
Mick Ryan ist nach einer 35-jährigen Militärlaufbahn als außerordentlicher Fellow am Center for Strategic and International Studies in Washington D.C., und als nicht ansässiger Fellow am Low Institute in Sydney tätig.
Welche Schwierigkeiten sind das?
Nun, sie wurden von den Ukrainern im Frontvorsprung zurückgedrängt und nun rücken Ukrainer von weiter westlich in ihren Rücken und auf ihre rechte Flanke vor. Die Russen müssen also aufpassen, dass sie in diesem Teil von Kursk, südlich des Flusses und westlich des ukrainischen Frontvorsprungs, nicht tatsächlich abgeschnitten und eingekesselt werden. Es ist noch ein wenig unklar, wie vieles im Krieg und insbesondere in Kursk, aber es scheint, dass die Ukrainer zumindest zu diesem Zeitpunkt in der Lage waren, den russischen Angriff auf sie in Kursk erfolgreich abzuwehren.
Wie lange glauben Sie, dass die Ukraine dieses Gebiet halten kann?
Es scheint zumindest so, als hätten sich die Ukrainer auf russische Gegenangriffe vorbereitet. Sie sind da kampfbereit reingegangen. Sie ziehen die Russen ganz sicher in einen Kampf hinein und für die Russen wird es viel schwieriger sein, sie zu vertreiben, als sie denken. Im Moment haben die Russen wahrscheinlich 30.000 bis 40.000 Soldaten verlegt. Das wird wahrscheinlich nicht ausreichen. Wahrscheinlich werden sie Zehntausende mehr einsetzen müssen. Die wirklich interessante Frage ist, woher sie sie nehmen. Denn es gibt mehrere Teile der Front, Pokrowsk, aber auch andere Teile im Osten der Ukraine, wo die Russen immer noch vorrücken, wenn auch langsam. Sie werden also schwierige Entscheidungen darüber treffen müssen, welche dieser Vormarschachsen sie grundsätzlich schließen wollen, um die Ukrainer aus Kursk zu vertreiben.
Wie viel kostet das aber auch die ukrainische Seite und wissen Sie etwas darüber, wie viele Kräfte sie einsetzen muss?
Es wird ziemlich teuer, was Kampftruppen angeht, insbesondere erfahrene. Die Ukrainer haben aus der Gegenoffensive 2023 gelernt, wo sie vor allem neue Kampfformationen eingesetzt hatten. In Kursk haben sie nun hauptsächlich sehr erfahrene, gut ausgerüstete, gut ausgebildete und gut geführte Kampfformationen eingesetzt. Das zieht also erfahrene Truppen aus anderen Teilen der Ukraine ab. Aber es sind nicht nur die Kampfformationen, auch das Element der Luftverteidigung ist wirklich wichtig. Andernfalls werden die Ukrainer einfach diesen Gleitbomben und anderen Langstreckenangriffen der Russen zum Opfer fallen. Die Luftabwehr wird ihnen dann leider in anderen Teilen der Ukraine fehlen. Hinzu kommen HIMARS-Raketenwerfer, Artillerie, Logistik, medizinische Unterstützung. Diese Dinge werden in jedem Krieg auf beiden Seiten gebraucht und die Ukrainer werden sie in Kursk einsetzen müssen. Und letztlich brauchen sie dafür eine Menge Ingenieure, die Verteidigungslinien befestigen, Gräben ausheben, Minen legen, unterirdische Kommandogruben anlegen und solche Sachen. Diese Dinge werden im Allgemeinen zentralisiert, weil sie sehr wertvoll und in den meisten Armeen rar sind.
Eines der strategischen Ziele des Einfalls war, den russischen Vormarsch im Donbass zu stoppen. Doch das ist bisher nicht geschehen.
Bisher war es nur ein Erfolg auf dem Schlachtfeld. Allein die Fähigkeit, in Russland Boden zu erobern und russische Formationen zu schlagen, ist ein taktischer Erfolg. Aber taktische Erfolge sind wertlos, wenn sie sich nicht in strategische und politische Erfolge umsetzen lassen. Und das ist bisher nicht geschehen. Es gab noch keine großangelegte Verlegung russischer Truppen aus kritischen Gebieten im Donbass. Die Kursk-Offensive hat Putin also bisher nicht gezwungen, seine strategischen Ziele zu überdenken. Und wir haben noch nicht gesehen, dass es die westlichen Nationen gezwungen hat, ihre Strategie für die Ukraine zu ändern. In der US-Präsidentschaftsdebatte letzte Woche konnte keiner der Kandidaten mit "Ja" antworten, als gefragt wurde: "Wollen Sie, dass die Ukraine gewinnt?"
War das das eigentliche Ziel der Ukrainer?
Das wirklich wichtige Ziel dieses Angriffs ist, zu zeigen, dass sie in der Lage sind, offensive Operationen durchzuführen, um ihr Territorium zurückzuerobern. Sie wollen zeigen: "Zwingt uns nicht, zu verhandeln, bloß weil ihr denkt, wir können es nicht zurückerobern. Wir können es." Ihre Botschaft richtet sich dabei in erster Linie direkt an Washington und Brüssel, denn zu viel der Debatte, insbesondere in den USA, dreht sich darum, dass Russland unausweichlich gewinnen wird und die Ukrainer ihr Territorium auf keinen Fall zurückerobern könnten. Ich stimme keinem von beidem zu. Die Ukrainer sagen, das stimmt nicht, aber sie müssen beweisen, dass es nicht stimmt. Sie wussten, dass sich die NATO-Strategie nicht ändern wird. Wenn man es eine Strategie nennen kann: "So lange zu helfen, wie nötig", ist meiner Meinung nach keine Strategie, sondern ein Slogan. Somit ist die Kursk-Offensive ein wichtiger Versuch, den Status quo zu beeinflussen.
Inwieweit kann das noch gelingen?
Ob dieses Ziel tatsächlich erreicht wird, ist nur teilweise klar. Die Offensive hat die Aufmerksamkeit wieder auf den Krieg gelenkt, was ich für wichtig halte, aber sie hat noch keine politischen Kalkulationen in Moskau, Brüssel, Berlin oder Washington verändert, und ich denke, das wäre ein wichtiges Ergebnis. Ähnlich sieht es auf operativer Ebene aus: Die Kursk-Invasion hat die Russen nicht zum Rückzug gezwungen bei ihrem Haupteinsatz im Donbass. Es war also ein großer Schritt, eine Operation mit sehr hohem Risiko, die sich auf dem Schlachtfeld ausgezahlt hat, aber noch keine politischen Dividenden abwirft.
Was sagt uns der Überraschungsangriff über die Fähigkeiten der Ukraine?
Zum einen zeigt es, dass sie aus der Zeit von 2023 viel gelernt haben. Die operative Sicherheit war sehr, sehr gut. Sie konnten dies sogar vor ihren eigenen Leuten geheim halten. Und das ist schwer in einer Ära, in der wir dieses Konzept des transparenten Schlachtfelds haben. Ich stimme dem nicht zu, ich denke nicht, dass es transparent ist. Aber wir haben sicherlich eine stark verbesserte Sichtbarkeit - aber eine stark verbesserte Sichtbarkeit ist nicht dasselbe wie Verständnis und Weisheit darüber, was vor sich geht. Die operative Sicherheit war also wichtig.
Verändert das die Optionen, die der Ukraine in Zukunft zur Verfügung stehen?
Die Tatsache, dass sie in der Lage waren, die russischen Linien zu durchbrechen und sie zu blenden, zeigt, dass sie im Vorfeld eine sehr effektive Kampagne hatten, bei der sie russische Drohnen und Überwachungssysteme zerstörten. Es gibt hier eine Menge, das wir uns ansehen und lernen können - etwa wie man in einer Ära der Drohnen einen Überraschungseffekt erzielen und die Sichtbarkeit des Schlachtfelds erheblich verbessern kann. Die Russen werden ganz klar auch daraus lernen. Sie sind nicht dumm. Jetzt wird es interessant sein, nach der Täuschung die Beziehung zu Washington und Brüssel zu managen. Aber ich denke, wir sollten uns mehr darum kümmern, dass die Ukraine in der Lage ist, Dinge erfolgreich zu tun, als uns Schritt für Schritt alles zu erzählen. Und wenn es das Leben der Ukrainer rettet und für Überraschung sorgt, ist das eine gute Sache.
Eines der erklärten Ziele des Einmarsches bestand darin, bessere Karten in den Verhandlungen zu haben, aber funktioniert das tatsächlich?
Ich meine, beides ist richtig. Erstens wollen sie bessere Verhandlungspositionen, und Kursk könnte dabei möglicherweise helfen, und zweitens ist es auch wichtig, den Donbass zu halten. Es besteht eindeutig eine Verbindung zwischen beidem, denn die Ukraine hat nicht unendlich viele Kampfbrigaden, um beides zu tun. Sie sind ein Risiko eingegangen in der Annahme, dass die Einnahme von Kursk tatsächlich wichtiger ist. Aber letzten Endes konnte die Ukraine in den letzten Wochen die Frontlinie im Donbass verstärken, da sie erkannte, dass die Russen sich nicht zurückgezogen haben und gleichzeitig ihre Offensive aufrechterhalten.
Und ist es strategisch clever, oder wäre es aus Ihrer Sicht wichtiger, an den eigenen Territorien festzuhalten?
Ich denke, beides über einen längeren Zeitraum zu tun, wird sehr, sehr schwierig sein. Irgendwann wird die Ukraine eine große Entscheidung darüber treffen müssen, wie sie Kursk unterstützt und insbesondere die Frontlinie von Pokrowsk weiter verstärkt. Sie hat nur begrenzte Ressourcen und die Russen haben viele Leute, die willens sind, sich dort hineinzuwerfen.
Selenskyj zufolge besteht ein Plan darin, Pufferzonen zu schaffen. Glauben Sie, dass dies ein praktikabler Plan für die Ukraine ist?
Es wird wirklich darauf ankommen, wie viel Gebiet die Ukrainer halten wollen, ob es so tief ist, wie sie es aufgebaut haben. Ich habe das Gefühl, es wird wahrscheinlich etwas weniger sein. Sie werden auf einem Boden sein wollen, auf dem man gut kämpfen kann. Das Gelände ist wirklich wichtig, wenn man es verteidigt. Sie werden also ein Gelände wählen, das besser zu verteidigen ist, von dem die Russen sie schwerer verdrängen können, nicht nur als Pufferzone, sondern um die Russen zu zwingen, anzugreifen und sich gegen die Ukrainer aufzureiben.
Hat die Ukraine Ihrer Ansicht nach ausreichend Ressourcen dafür?
Das wird die ukrainischen Ressourcen beanspruchen. Ich meine nicht nur Bodentruppen, sondern auch Luftabwehr, Drohnen, elektronische Kriegsführung, Logistik, Artillerie, all diese Dinge. Es muss also erneut entschieden werden, wie viele Ressourcen in die Verteidigung dieser Pufferzone fließen und welche Ressourcen man beispielsweise in den Donbass steckt. Und hier es gibt mehrere Gebiete - Tschassiw Jar, Pokrowsk, Kramatorsk -, wo es für die Ukraine taktische und operative Herausforderungen gibt, was bedeutet, dass Armeechef Oleksandr Syrskyj sich überlegen muss, wie er seine Truppenstandorte ausbalanciert.
Den Vormarsch in Pokrowsk konnte die Ukraine nicht stoppen. Kann man also sagen, dass die operativen Ziele in dieser Hinsicht verfehlt wurden?
Nein, ich denke, es ist zu früh, um das zu sagen. Ich weiß, dass ein Monat für manche Leute eine lange Zeit ist, aber in einem langen Krieg ist es das eigentlich nicht. Wissen Sie, ich denke, dass die Russen irgendwann um Pokrowsk herum ihren Höhepunkt erreichen werden, egal ob es nur kurz ist, ob es in der Stadt ist oder danach. Ich meine, das Beste, was die Russen bis Ende des Jahres tun können, ist, Pokrowsk einzunehmen. Und ich bin nicht sicher, ob sie das überhaupt schaffen werden. Man sieht eine Verlangsamung ihrer Vorstöße. Die Ukrainer haben zwei bis drei weitere Brigaden in dem Gebiet stationiert, und wissen Sie, in ein oder zwei Monaten, wenn die Regenfälle vor dem Winter einsetzen, wird das die Dinge für die Russen noch schwieriger machen, und natürlich auch für die Ukrainer.
Sehen wir bereits den Höhepunkt der Kursk-Offensive?
Ich denke, wir müssen uns noch ein paar Wochen gedulden und sehen, wie sich die Sache entwickelt. Es ist noch nicht vorbei, ich denke, keine der beiden Seiten hat in Kursk oder Pokrowsk einen Höhepunkt erreicht.
Was sollte der Westen und insbesondere Europa und Deutschland aus der jüngsten Entwicklung lernen?
Ich denke, das Wichtigste ist, Moskau zu sagen, dass sie uns nicht aussitzen können. Ich meine, das ist Putins Theorie des Sieges, nicht wahr? Dass er den Westen aussitzen wird, auf die US-Wahlen wartet und hofft, dass Trump gewählt wird. Das Wichtigste, was wir also tun können, ist, den Willen und die strategische Geduld zu haben, Putin zu sagen: "Nein, wir lassen euch das nicht machen." Wenn sich die Rhetorik ändert, wird er seine Kalkulation wirklich überdenken müssen. Denn selbst Russland kann nicht weiter jeden Tag 1.200 Menschen verlieren. Es mag ein großes Land sein, aber irgendwann wird sich die Belastung in der Gesellschaft bemerkbar machen.
Fehlt es also am Willen?
Dieser Krieg ist das klarste Beispiel für Gut gegen Böse zu unseren Lebzeiten. Es ist sehr klar, wer hier im Recht ist und wer im Unrecht. Und wenn diese Klarheit nicht ausreicht, um uns von unserer strategischen Ängstlichkeit abzubringen, die wir in den letzten 30 Jahren an den Tag gelegt haben, ist es schwer vorstellbar, was uns sonst noch zu einer proaktiveren Haltung bei der Verteidigung unserer demokratischen Systeme gegen China und Putin und andere bewegen könnte.
Mit Mick Ryan sprach Kristina Thomas