Bei Stress ist der Heißhunger auf Pizza und Süßes oft besonders groß. Wie man Stressessen in den Griff bekommt, erklärt Ernährungswissenschaftlerin Dagmar von Cramm.
Manchen Menschen verschlägt es bei Stress den Appetit, andere können mit dem Essen kaum noch aufhören. Warum reagieren Menschen so unterschiedlich, Frau von Cramm?
Jeder kennt Menschen, die Stress haben und trotzdem dünn sind. Ausnahmen gibt es immer. Man geht davon aus, dass Nicht-Essen die ursprüngliche Reaktion auf Stress ist. Mit vollem Magen kämpft es sich schwerlich gegen den berühmten Säbelzahntiger. Die Regel ist aber eher, dass Menschen bei Stress zunehmen. Heutzutage ist Stress meist nicht mehr mit körperlicher Aktivität verbunden, Nahrung ist allzeit verfügbar. Dazu kommt, dass der Körper gelernt hat: Essen hat eine beruhigende Wirkung. Und die Hormone mischen zudem ordentlich mit.
Die Hormone spielen verrückt?
Bei chronischem Stress ist vor allem das Cortisol erhöht, das lässt den Blutzuckerspiegel steigen und führt zu einer Insulinausschüttung. Das wiederum sorgt dafür, dass die Energie, die man zu sich nimmt, direkt in die kurzfristigen Fettdepots geht – das Bauchfett wächst. Außerdem beeinflusst Cortisol die Selbstwahrnehmung, wir verlieren das Gefühl dafür, ob wir satt sind oder nicht. Diese ausgebremste Selbstwahrnehmung ist ein großes Thema, wenn es um Pluskilos bei Stress geht.
Stressessen: Es ist kein echter Hunger
Es ist also kein echter Hunger, der uns bei chronischem Stress die Töpfe leer essen lässt?
Nein. Die Hormone gaukeln uns vor, dass wir dringend unsere Energiespeicher auffüllen müssen, weil schlechte Zeiten ins Haus stehen. Deswegen ist es wichtig, die Selbstwahrnehmung zu schulen. Yoga kann helfen. Es gilt: Appetit kommt plötzlich. Jeder kennt das, man spaziert an einem Backshop vorbei, es duftet und das Wasser läuft einem im Mund zusammen. Hunger hingegen baut sich langsam auf und ist nachhaltig.Die Hirschhausen- Diät als App 14.05
In ihrem neuen Buch steht der Satz, "Stress ist wie ein C-Promi: Kriegt er keine Beachtung, zieht er sich in eine Ecke zurück und schmollt". Das klingt, als müsse man Stress nur ignorieren und die Pfunde purzeln. Ist es so einfach?
So einfach ist es nicht. Die Ernährung allein löst das Problem nicht. Auch Verhaltensprävention ist wichtig. Das bedeutet: Ernährungsgewohnheiten umstellen. Allerdings sollte man sich nicht zu viele Regeln auferlegen. Denn das kann sonst zu zusätzlichem Stress und Überforderung führen.
Wie geht man es also an?
Gut wäre, sich einen Plan zu machen. Dazu gehört beispielsweise, bewusste Esspausen einzulegen. Ich halte drei Mahlzeiten am Tag für sinnvoll. Das sollten keine Magermahlzeiten sein, sondern dem Sattessen dienen. Zwischen den Mahlzeiten aber heißt es: rigoros sein, nicht snacken. Und wenn man trotzdem unbedingt etwas kauen möchte, dann kann man immer noch zu Kaugummis greifen.
Kaugummis?
Kaugummis können eine gute Eselsbrücke sein. In Studien hat man herausgefunden, dass das Kauen eine beruhigende Wirkung hat und Stress reduziert. Nur heißt das nicht, dass man dabei auch immer essen muss. Kaugummis können den gleichen Effekt haben. Dabei sollte es sich aber um kalorienarme handeln. Auch gut ist Rohkost, zum Beispiel ein Möhrenvorrat. Jeder muss für sich selbst herausfinden, was ihm schmeckt und hilft. Wichtig ist auch, dass man sich eine gute Essensumgebung schafft, die einen nicht in Versuchung führt.
Was bedeutet das?
Es hilft, sich einen Essensplan für die Woche zu machen, eine Einkaufsliste zu schreiben und sich an diese auch zu halten. Strukturen sind nicht zu unterschätzen, auch wenn sie altmodisch sind. Außerdem kann ich nur dazu ermutigen, keine Süßigkeiten zu bunkern. Studien haben herausgefunden, dass man doppelt so viele Pralinen isst, wenn sie geöffnet in Sichtweite stehen. Die Versuchung zuzugreifen nimmt bereits ab, wenn die Schachtel geschlossen ist und noch weiter, wenn sie im geschlossenen Schrank ist.
Nach einem fordernden Tag kann eine Stückchen tröstende Schokolade eine Wohltat sein. Muss man sich das wirklich verbieten?
Nein. Es muss aber nicht immer die Schokolade sein, wenn einen der Süßhunger überfällt. Stattdessen kann man zum Beispiel eine Beerenquiche machen, sie ist voller Ballaststoffe und Vitamine und macht satt. Das wohlige Gefühl bekommt man durch sie dennoch. Übrigens: Wer dennoch nicht auf Schokolade verzichten möchte, sollte abends eher zur Milchschokolade greifen. In Bitterschokolade sind Wirkstoffe, die ein wenig wie Koffein wirken. Wer vor dem Schlafengehen runterkommen möchte, dem empfehle ich die gute alte Honigmilch.
Eselsbrücken, Essensumgebung, Einkaufslisten – all das klingt, als müsste man seinen Körper austricksen …
Ernährungsgewohnheiten zu ändern, ist nichts, was von heute auf morgen klappt. Das dauert. Bei manchen geht es schneller, andere brauchen ein Jahr. Das ist ein Prozess. Am Anfang kann es schon helfen, bestimmte Dinge nicht einzukaufen oder statt der XXL-Packung nur die kleine zu wählen.
Ist eine Ernährungsumstellung in Zeiten, in denen man eh schon nicht weiß, wo einem der Kopf steht, die richtige Entscheidung?
Wichtig ist, dass man nicht übertreibt. Wer keine Zeit hat, kann auch mal nur eine Banane essen. Und eine Schoko-Dattel-Creme fürs Frühstücksbrot muss man nicht unbedingt selbst machen, die gibt es auch im Supermarkt. Eine weitere Möglichkeit ist es, für mehrere Tage vorzukochen, zum Beispiel einen großen Topf Suppe, der dann für die Mittagspausen hält. Es muss nicht alles auf einen Schlag geändert werden. Allerdings muss man sich auch klarmachen: Wenn ich nichts ändere, ändert sich auch nichts.
Und wann sieht man erste Effekte?
Was sofort anders aussieht, ist das Blutbild. An diesem kann man die Erfolge richtig gut ablesen. Der Blutfettspiegel wird sich verbessern, wahrscheinlich auch der Blutdruck. Wahrscheinlich nimmt man im ersten Monat auch ein, zwei Kilo ab – aber eben nicht zehn. Das wäre aber auch nicht sinnvoll, weil das bedeuten würde, dass man Muskelmasse abbaut.
Kann man den Stress durch die richtige Ernährung wirklich wegessen?
Ja, das kann man. Aber das wird man nur durchhalten, wenn man sich auch das eigene Verhalten anschaut und da etwas ändert. Essen und Verhalten sind eng miteinander verbunden. Wenn es mir nicht gut geht und ich esse zudem auch noch Schrott, macht das alles noch schlimmer. Esse ich, wenn es mir schlecht geht, besonders gute Dinge, die beispielsweise dabei helfen, meine Immunabwehr zu fördern oder meinen Schlafrhythmus wieder ins Lot zu bekommen, dann wird es mir besser gehen, mein Stress wird sich reduzieren. Schlafmangel ist eine Nebenwirkung von Stress, auch der kann zu Übergewicht führen.
Wer wenig schläft, setzt an?
Bei gestressten Menschen ist der Cortisolspiegel gestört. Der sollte abends absinken, tut er aber nicht. Die Folge: Das Melatonin, das für Müdigkeit sorgt, kommt nicht zum Zug. Die fehlende Nachtruhe hat wiederum Auswirkungen auf andere Hormone. Wer wenig schläft, hat laut Studien einen hohen Ghrelin- und einen niedrigen Leptin-Spiegel. Das heißt, der Appetit ist ständig vorhanden, ein Sättigungsgefühl stellt sich nicht ein. Eine wissenschaftliche Hypothese ist daher, dass diese Störung zu einem Überessen führen kann.
Mehr Kilos, Hormone außer Rand und Band und wenig Schlaf – ist Stress denn wirklich nur schlecht?
Nein. Es gibt positiven und negativen Stress. Stress ist eigentlich eine Lebensrettungsaktion des Körpers. Wenn wir spät dran sind und die Straßenbahn droht uns vor der Nase wegzufahren, sorgt das erhöhte Stresslevel dafür, dass wir kurzfristig besonders leistungsfähig sind, in Turbogeschwindigkeit rennen können, damit wir die Bahn noch erwischen. Das ist erst einmal toll. Ist Stress aber ein Dauerzustand und kann der Körper diesen durch Aktivität nicht abbauen, dann hat das negative Folgen – und kann krank machen.
Das Buch von Dagmar von Cramm und Jacob Drachenberg "Entspannt macht schlank: Die besten Anti-Stress-Rezepte für Kopf und Körper" ist im Gräfe und Unzer Verlag erschienen, 224 Seiten, 22 Euro.