Nicht nur die Bevölkerung in der Region Kursk wird von der ukrainischen Offensive kalt erwischt, sondern auch Putin. Der Grund liegt im System des Kremls selbst. Denn wer dem russischen Präsidenten die Wahrheit sagt, muss mit Strafen rechnen.
Die Überraschung ist gelungen. Dass auf seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine die Invasion von Kiews Truppen in die Region Kursk folgen würde, hat Russlands Präsident Wladimir Putin nicht erwartet. Das ist deshalb erstaunlich, weil er Oberbefehlshaber des russischen Militärs ist. Die ukrainische Offensive in der Grenzregion entlarvt die Schwächen von Putins System, das auf Autoritarismus, Propaganda und Korruption aufbaut.
"Durch den Angriff der Ukraine im russischen Staatsgebiet sind große Koordinations- und Vertrauensprobleme zwischen Putin und der Armee deutlich geworden. Putin wurde nicht von seinem Militär über die Bedrohung informiert", sagt Fabian Burkhardt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg, im Gespräch mit ntv.de.
Einen Beleg für das schwierige Verhältnis Putins zu seinem Militärapparat sieht Burkhardt etwa in der Entlassung des Vize-Verteidigungsministers Timur Iwanow und seiner anschließenden Festnahme im April. Insgesamt tauscht Putin im Verteidigungsministerium momentan viel Personal aus und baut das Haus nach seinen Wünschen um. Mitte Mai etwa wurde Sergei Schoigu nach zwölf Jahren im Amt durch Andrei Beloussow als Verteidigungsminister ersetzt. Viele andere hohe Beamte mussten ihren Posten räumen und wurden teils wegen Korruptionsvorwürfen in Haft genommen.
"Das System ist stark personalisiert und von Putin abhängig"
Waleri Gerassimow, der Generalstabschef der russischen Armee, blieb jedoch im Amt. Warum er nicht gemeinsam mit Schoigu den Hut nehmen musste, sei eine offene Frage, sagt Burkhardt. Gerassimow sei nach der erfolgreichen ukrainischen Offensive in Kursk in einer schwierigen Lage: "Putin fühlt sich von Gerassimow hintergangen, da er von ihm nicht richtig oder zumindest nur teilweise informiert wurde."
Das fehlende Vertrauen und der lückenhafte Informationsfluss zwischen Putin und seinem Militär sei schon lange ein Problem, sagt Burkhardt. So sei Putin zu Beginn seines Angriffskriegs fest davon ausgegangen, die Ukraine bereits nach kurzer Zeit einnehmen zu können. Das erweis sich aber als Fehleinschätzung des Inlandsgeheimdienstes FSB, dessen Chef Putin einst war. Ein Grund dafür ist laut Burkhardt die Angst der militärischen Führung und der Geheimdienste, Putin die Wahrheit zu sagen. Die Lage werde häufig beschönigt.
"Das Verteidigungsministerium und der Generalstabschef haben einen Anreiz, Putin Loyalität zu signalisieren. Das System ist stark personalisiert und von Putin abhängig. Es besteht die Gefahr, dafür bestraft zu werden, Putin die Wahrheit ins Gesicht zu sagen", sagt er. Diese Mängel in Putins System seien ein Grund für den Erfolg des ukrainischen Militärs in Kursk.
Zwar ist die ukrainische Offensive in der Region seit dem Zweiten Weltkrieg die erste Invasion ausländischer Truppen, die Russland auf seinem Staatsgebiet erlebt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs wagte aber bereits jemand, an Putins System zu rütteln: Jewgeni Prigoschin. Der Chef der Söldnertruppe Wagner versuchte vor etwa einem Jahr, mit seinem "Marsch der Gerechtigkeit" Schoigu und Gerassimow aus ihren Ämtern zu entfernen. Nach rund 24 Stunden Aufstand vollzog Prigoschin überraschend eine Wende und beorderte seine Söldner zurück in ihre Lager.
Kursk-Offensive als "absolute Demütigung" Putins
Prigoschin focht damals einen Machtkampf mit der militärischen Führung im Kreml aus und hatte somit andere Gründe als die Ukraine, für die ihre Offensive in Kursk einen Teil ihrer Verteidigungsstrategie darstellt. Eine Verbindung zwischen beiden Vorfällen sieht Burkhardt dennoch: "Jetzt wird deutlich, dass Prigoschin mit seiner Kritik nicht ganz unrecht hatte, wenn er bemängelte, dass die Kommunikation im russischen Staat schlecht funktioniert, dass viele hohe Generäle in ihren Kabinetten in Moskau sitzen und gar nicht wirklich wissen wollen, was da auf dem Schlachtfeld passiert und dass sie sich vor allem für die eigene Karriere interessieren."
Die Ukraine könnte aus Prigoschins Vorstoß damals Schlüsse für ihre Offensive gezogen haben, sagt Militärexperte Nico Lange ntv.de. "Die Ukrainer werden das verfolgt und gemerkt haben, dass in Russland immer viel patriotisch geredet wird. Aber bei Prigoschins Angriff hat man gesehen: Die Bevölkerung verhält sich passiv. Im Gegensatz zur Ukraine ist eigentlich kein Zivilist bereit, Putin und den russischen Staat zu verteidigen." Sogar Polizisten seien Prigoschins Söldnern während ihres Marsches damals aus dem Weg gegangen. Es sei günstig für einen Vorstoß wie den der Ukrainer, wenn keiner die Verteidigung aufnehme und die Grenzen schlecht gesichert seien. Die Russen lebten in einem "autoritären, korrupten und verkommenen System", seien sich darüber bewusst - und zeigten deshalb wenig Engagement für die Verteidigung ihres Landes.
Im Eindringen ukrainischer Truppen in der Region Kursk sieht Lange eine "absolute Demütigung" Putins. Allerdings versuche er durch Propaganda, die Niederlage zu übertünchen. In der Öffentlichkeit versuche Putin, die Verantwortung auf das Militär oder die lokalen Behörden abzuschieben. Ein Beleg für die Wut Putins auf seine hochrangigen Beamten ist ein Video, das auf der Internetseite des Kremls veröffentlicht wurde. Darin tadelt Putin die Beamten öffentlich. Unter anderem der Gouverneur der Region Kursk, Alexei Smirnow, wird in die Schranken gewiesen.
Menschen in Kursk "fühlen sich vor den Kopf gestoßen"
Smirnow berichtet bei der Versammlung von einer "schwierigen Lage" in seiner Region, da die Ukrainer 28 Ortschaften unter ihre Kontrolle gebracht hätten. "Die Tiefe des Eindringens in die Region Kursk beträgt 12 Kilometer und die Breite der Front 40 Kilometer", behauptet Smirnow. Putin entgegnet daraufhin unwirsch: "Sehen Sie, Alexei Smirnow, die militärische Abteilung wird uns berichten, wie breit und tief es ist. Sie werden uns über die sozioökonomische Lage und die Hilfe für die Menschen berichten." Das Video zeigt deutlich, wie schlecht Putin gelaunt ist.
Sowohl Lange als auch Burkhardt sind davon überzeugt, dass die ukrainische Offensive einige Russen trotz der Propaganda wachrütteln könnte, insbesondere in Kursk. "Viele der Menschen, die jetzt in der Region evakuiert werden, fühlen sich vor den Kopf gestoßen", sagt Burkhardt. Sie seien während der Evakuierung auf sich allein gestellt. Auf sozialen Netzwerken habe es einige Videos von Bewohnern der grenznahen Gebiete gegeben, die Putin angesichts der verzweifelten Lage direkt um Hilfe gebeten haben. Dies habe auch die Frage aufgeworfen, wie wahrheitsgetreu das vom Kreml kontrolliert Staatsfernsehen berichtet. Die Bürger der Region Kursk hätten sich die Frage gestellt: "Warum hat die Staatsmacht uns nicht die Wahrheit gesagt, wie groß die Bedrohung ist?"