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DFB-Team: Leon Goretzka: Warum der Bundestrainer ihn wieder braucht



In München und beim DFB galt er schon als gescheitert – jetzt steht der stille Zweifler Leon Goretzka vor einem Comeback in der Nationalmannschaft 

Große Karrieren enden oftmals kaum merklich, sie verblassen einfach. Wer könnte schon den Moment benennen, in dem Thomas Müller vom Leistungsträger des FC Bayern zum Stand-by-Spieler wurde, zum kickenden Vereinsmaskottchen? Es gibt diesen einen Moment nicht, das Lebenswerk von Müller ist viel zu wuchtig, als dass es sich auf eine einzige missratene Szene reduzieren ließe. 

Bei Leon Goretzka hingegen, Müllers Teamkollegen in München, liegen die Dinge anders. Der Bruchpunkt in seiner Karriere lässt sich präzise datieren, und zwar auf den Tag und die Stunde, ja sogar auf die Minute genau. 

Das sagt viel über Goretzka aus, dem sie in München einst eine Laufbahn wie jene von Müller zugetraut hatten und ihm auch deshalb einen üppig dotierten Vertrag über angeblich knapp 18 Millionen Euro pro Saison gaben. 

Die WM 2022 wird zum Auslöser für Goretzkas Krise

Der Tag, der alles veränderte für Leon Goretzka, war der 23. November 2022. Khalifa International Stadium, Katar, WM-Gruppenspiel Deutschland gegen Japan. In der 67. Minute, Deutschland führt 1:0, nimmt Bundestrainer Hansi Flick den Torschützen Ilkay Gündogan vom Feld und bringt Leon Goretzka. Ein Wechsel, der keiner spielerischen Notwendigkeit folgt, wie Flick später erklären wird, sondern als Ehrerbietung an Goretzka gedacht war. "Ich wollte Leon zeigen, dass er dazugehört und dass er kein Bankspieler ist", sagte Flick später.

Kaum ist Goretzka auf dem Platz, verändert sich das deutsche Spiel. Ordnung und Struktur gehen verloren – nicht etwa, weil Goretzka schwere Fehler unterlaufen, sondern weil Gündogan, der Spielmacher, mit seinen Ideen fehlt. 

Deutschland verliert 1:2. Von dieser Niederlage erholt sich die Mannschaft nicht mehr; ein Punkt gegen Spanien und drei gegen Costa Rica bedeuten Platz drei in der Gruppe – und das vorzeitige WM-Aus.  

Nach dem Scheitern in Katar ist Goretzka plötzlich ein anderer. Beim FC Bayern werden seine Leistungen schwächer und schwächer, zudem kriselt es im Verein, Trainer Julian Nagelsmann wird entlassen und durch Thomas Tuchel ersetzt.

Goretzka zieht sich aus der Öffentlichkeit weitgehend zurück. Ausgerechnet er, der in den Monaten vor der WM den Außenminister des DFB gegeben hatte. Menschenrechte, die Verfolgung von Homosexuellen, mangelnde Presse- und Meinungsfreiheit – Goretzka sprach auf vielen Bühnen informiert und kritisch über den WM-Gastgeber Katar. Er hatte sogar einen eigenen Medienberater mit Politikexpertise an seiner Seite (es war jener Berater, der bei der Bundestagswahl 2021 die Kampagne von Olaf Scholz gesteuert hatte). 

Leon Goretzka bejubelt ein TorHat derzeit häufig Anlass zum Feiern: Leon Goretzka (l.), hier nach seinem Tor im Champions-League-Hinspiel gegen Bayer Leverkusen
© Peter Kneffel

Die klugen Worte, für die Goretzka in den Medien gelobt worden war, wurden nach der WM gegen ihn verwendet. Statt zu versuchen, die Welt zu retten, hätte er mal lieber den deutschen Fußball retten sollen, hieß es. Goretzka, die Ein-Mann-NGO, galt als gescheitert. 

Man muss all dies mitdenken, wenn Leon Goretzka in diesen Tagen zur deutschen Nationalmannschaft zurückkehrt, fast anderthalb Jahre nach seiner letzten Nominierung im Herbst 2023. 

Goretzkas langer Weg zurück ins DFB-Team

Goretzka, 30, ist einen langen Weg gegangen, und sein Rucksack wog bleischwer. Nicht wenige in der Fußball-Branche hielten ihn bereits für einen hoffnungslosen Fall; der FC Bayern stellte ihn im vergangenen Jahr sogar öffentlich zum Verkauf. Kaum Einsatzzeiten, aber ein exorbitant hohes Gehalt, das wollten sich selbst die betuchten Münchener nicht länger leisten. 

Nun aber ist Goretzka wieder gefragt, sowohl beim FC Bayern als auch in der Nationalmannschaft. Ein kleines Wunder. Es hat mit der Verletztensituation zu tun auf der Position acht vor der Abwehrkette (im DFB-Team fallen Aleksandar Pavlovic und Felix Nmecha aus), aber auch mit den zuletzt starken Leistungen des gebürtigen Bochumers Goretzka.

Der hat sich zurückgekämpft, und dies auf eine leise, beharrliche Weise. Längere Interviews gibt er schon lange nicht mehr, höchstens ein, zwei Sätze nach Spielen. Leeres Zeug, für das er sich früher wohl geschämt hätte. 

Aber diese Selbstverknappung und die Demutsgesten dürften Bundestrainer Nagelsmann darin bestärkt haben, Goretzka für die beiden Nations League-Spiele gegen Italien (Donnerstag, 20:45 Uhr/ARD und Sonntag, 20:45 Uhr/RTL) zu berufen. 

Nagelsmann hat seinen Kader in drei Gruppen eingeteilt: Da sind die Künstler um Florian Wirtz und Jamal Musiala, da ist der gehobene Mittelbau mit Spielern wie Joshua Kimmich, Jonathan Tah oder Antonio Rüdiger, und da sind die sogenannten Worker wie Robert Andrich oder David Raum.

"Offenes, klärendes Gespräch" mit Nagelsmann

Für Goretzka war im DFB-Team kein Platz mehr, ebenso wenig wie für Mats Hummels. Nagelsmann fürchtete, dass die beiden womöglich Ansprüche aufgrund früherer Erfolge anmelden könnten und dann nörgelnd auf der Bank sitzen. Auch deshalb nahm Nagelsmann sie nicht mit zur EM im vergangenen Jahr.

Diese Sorgen drücken den Bundestrainer nun nicht mehr. Mit Goretzka habe er ein "offenes, klärendes Gespräch" geführt, sagte Nagelsmann bei der Bekanntgabe des Kaders, ohne jedoch zu verraten, welche Rolle er künftig für Goretzka vorsieht. 

Wenn der auffällig häufig erkrankte oder verletzte Aleksandar Pavlovic (FC Bayern) gesundet und wenn Angelo Stiller (Stuttgart) und Felix Nmecha (Dortmund) in ihren Vereinen weiterhin überzeugen, dürfte es mit Blick auf die WM 2026 eng werden für Goretzka. Pavlovic, 20, Stiller, 23, und Nmecha, 24, gehört die Zukunft beim DFB; Goretzka hingegen ist noch ein Spieler aus der Ära Löw und Flick. 

Wobei sie Goretzka schon gebrauchen könnten bei der Nationalmannschaft – prinzipiell jedenfalls. Die WM 2030 findet in Spanien, Marokko, Portugal, Argentinien, Paraguay und Uruguay statt. Da wäre es natürlich von Vorteil, wenn der DFB einen Außenminister dabei hätte, der zu jedem Gastgeberland eine politische Analyse liefern kann. 

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