3 months ago

Der nicht enden wollende Tag: Der Schock des 7. Oktober hat Israel fest im Griff



Ein Jahr nach dem Hamas-Angriff sind Israelis im Trauma vereint, doch gespalten über die Kriegspolitik ihrer Regierung. Warum das Land keinen Ausweg aus dem Schock des 7. Oktober findet - und dennoch fest zusammensteht.

Der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 auf Israel war nicht nur das schlimmste Pogrom gegen das jüdische Volk seit dem Holocaust. Das Massaker der palästinensischen Terrororganisation löste auch den Waffengang in Gaza aus. Nicht wenige erinnerte der Überraschungsangriff aus Gaza an den Jom Kippur Krieg von 1973. Genau 50 Jahre und ein Tag zuvor - am jüdischen Versöhnungstag - starteten zahlreiche arabische Nationen unter Führung von Ägypten und Syrien einen Überraschungsangriff auf Israel. Der wäre beinahe mit dem Untergang Israels geendet. Zwar konnte der jüdische Staat nach 19 Tagen Krieg das Blatt noch wenden, doch die damalige Premierministerin Golda Meir musste sich dem öffentlichen Druck beugen und zurücktreten.

Anders als vor einem halben Jahrhundert hat der 7. Oktober den heutigen Regierungschef Benjamin Netanjahu nicht zu Fall gebracht - trotz 1200 ermordeter und knapp 5000 verletzter Israelis an einem Tag. "Für immer Oktober hieß es 1973," erinnert sich Giora Lavon, damals Berater im israelischen Verteidigungsministerium. "Der Jom Kippur Krieg war sowohl der größte militärische Sieg Israels, als auch sein schockierendstes Ereignis. Die Narben waren in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft spürbar, doch der Horror vom letzten Herbst hat alles übertroffen. Dieses Trauma wird uns noch lange belasten."

Aus Sicht des 91-jährigen Sicherheitsexperten und vieler weiterer Israelis tragen die aktuelle Regierung und der Sicherheitsapparat die maßgebliche Schuld daran, dass der Hamas-Angriff überhaupt geschehen konnte. Denn trotz belastbarer Informationen ihrer Geheimdienste, dass etwas passieren könnte, nahmen die Verantwortlichen des jüdischen Staates die Warnungen nicht ernst. "Der Premier trägt die Hauptschuld", klagt Lavon. "Die erste moralische Verantwortung Israels gilt den Bürgern, die es nicht beschützen konnte. Dass nach so einem Desaster diese Regierung weiterhin an der Macht ist, macht alles noch trauriger."

Bangen um die Geiseln

Jeden Tag aufs Neue fechten Demonstranten Netanjahus Herrschaft an. Demonstranten, die Netanjahu dafür verantwortlich machen, dass die am 7. Oktober entführten Israelis noch immer nicht heimgekehrt sind - und viele von ihnen nie heimkehren werden können. 251 Menschen wurden von der Hamas verschleppt, von denen 97 noch immer in Gaza festgehalten werden. Schätzungen gehen davon aus, dass nach rund 360 Tagen Geiselhaft nur noch 30 der 97 Menschen am Leben sind.

Überhaupt haben sich in Israel die Meinungsverschiedenheiten über die Kriegspolitik der Regierung verschärft seit einem kurzlebigen Waffenstillstand im November, bei dem über 100 Geiseln freigelassen wurden. In einer Umfrage forderten im Juli 72 Prozent den Rücktritt Netanjahus. Und so vergeht kein Samstagabend ohne landesweite Proteste, die die Regierung auffordern, die Entführten sofort nach Hause zu bringen.

"Israelis, die um jeden Preis eine Vereinbarung mit der Hamas fordern, um die Freilassung der Geiseln sicherzustellen, werden als Linke und Verräter diffamiert", sagt Tamar Hermann, leitende Forscherin am Israel Democracy Institut in Jerusalem. "Sie werden von einer radikalen Rechten bekämpft, die befürchtet, dass solche Proteste die Position der Regierung untergraben und den militanten Islamisten unbeabsichtigt Auftrieb geben könnten." Diese Spaltung spiegele die politische Kluft im Lande wider.

Israel schon vor dem 7. Oktober gespalten

Diese Kluft hatte sich schon vor dem Angriff der Hamas vertieft, als die vom Premierminister vorgeschlagene Justizreform landesweite Massenproteste auslöste. Die Gesetzesänderung zielte darauf ab, den Obersten Gerichtshof unter die Kontrolle der Regierung zu bringen. Tausende Demonstranten aus allen Teilen der Gesellschaft forderten deshalb den Rücktritt Netanjahus. Zahlreiche Reservisten der Israelischen Streitkräfte (IDF) drohten mit ihrer Dienstverweigerung. Eine ernsthafte Schwächung der militärischen Fähigkeiten Israels stand im Raum.

"Für die politische Rechte waren diese Proteste ein Hauptgrund, die den 7. Oktober möglich machten," erklärt Hermann. "Jetzt fordern sie die Vernichtung der Hamas. Natürlich wollen sie auch die Befreiung der Geiseln, sind aber nicht bereit, sich auf einen Deal mit den Terroristen einzulassen." Nach dem 7. Oktober nahm auch die Spaltung zwischen säkularen und orthodoxen Juden zu, weil letztere von der Wehrpflicht befreit sind. Sie müssen nicht in Gaza kämpfen.

Einheit und Spaltung gehen Hand in Hand

Zugleich steht der Hamas-Überfall am Anfang einer nationalen Solidaritätsbewegung. Tausende von Freiwilligen sammelten Geld, Kleidung oder auch Spielsachen für Hilfsbedürftige. Die Menschen bereiteten Mahlzeiten für Soldaten zu oder nahmen Vertriebene in ihren Häusern auf. Diese geteilte Trauer und Solidarität brachte den Menschen etwas Trost. Doch Experten befürchten, dass der jüdische Staat nun vor der schwersten psychologischen Krise seiner Geschichte steht. Denn die viele offenen Fragen zum Schicksal der Geiseln haben es den Menschen unmöglich gemacht, aus ihrem Schockzustand herauszukommen.

"Das Trauma hat Israel vereint, aber durch den Gaza-Krieg auch gespalten", sagt Merav Roth. Die Psychoanalytikerin behandelt ehemalige Geiseln und Familien der Ermordeten. Das Sicherheitsgefühl vieler Israelis sei "zerstört", sagt Roth. Zum einen, weil sich die Menschen mit den Opfern identifizierten, zum anderen, weil die Sicherheitskräfte nicht in der Lage waren, den 7. Oktober zu verhindern. Roth sagt: "So eine Invasion in den eigenen vier Wänden zu erleben - individuell als auch kollektiv -, ist beispiellos in der Geschichte des jüdischen Staates und erschreckend für alle Bürger."

Der Schock weitet sich aus

Seit dem Hamas-Angriff hat die israelische Gesellschaft verschiedene Traumata durchgemacht. Einige erlebten das Massaker vor Ort, andere bekämpften die Terroristen in Gaza. Hunderttausend Inlandsflüchtlinge haben ihr Zuhause verlassen müssen und die ganze Nation fühlt mit dem Schicksal der Geiseln. "Aufgrund der engen Struktur Israels, in der fast jeder ein betroffenes Opfer kennt, hat dies beispiellose Auswirkungen auf das Land", sagt Roth. "Wir haben derzeit ein vielschichtiges Trauma, mit mehreren Ebenen und Betroffenen." Es handele sich nicht um einen Schock, der überstanden ist, sondern um ein Ereignis, dessen Komplikationen immer weiter zunehmen angesichts anhaltender Meldungen über tote Geiseln und kämpfende Soldaten in Gaza sowie des Kriegs gegen die Hisbollah im Libanon.

Während die militärische Infrastruktur der Hamas fast zerschlagen ist, eröffnet der jüdische Staat derzeit im Norden eine weitere Front. Diesmal im Kampf gegen die vom Iran unterstützte Terrororganisation Hisbollah. Diese startete einen Tag nach dem Hamas-Überfall eine Serie von Angriffen auf Israel. Die Schiiten-Miliz feuerte seit dem vergangenen Herbst über 9000 Raketen auf Israel. Mehr als 70.000 Israelis haben ihre Häuser und Wohnungen im Norden des Landes verlassen müssen. Israels Sicherheitskräfte antworteten mit einer Reihe von Schlägen gegen die Hisbollah. Im Rahmen einer kühnen Operation explodierten winzige Sprengsätze in Tausenden von Pagern und Walkie-Talkies der Hisbollah. Die IDF flog Hunderte von Luftangriffen, bei denen hochrangige Kommandeure getötet wurden. Der langjährige Generalsekretär Hassan Nasrallah, wichtigster Kopf und Ikone der Hisbollah-Anhänger, ist ebenfalls tot.

Keine zwei Meinungen zum Iran

"In Jerusalem herrscht Konsens darüber, Irans Feuerring um Israel zu zerstören", sagt Ex-Sicherheitsberater Lavon. "Wir kämpfen gegen das Mullah-Regime an sieben verschiedenen Fronten. Nachträglich war es ein Fehler, der Hisbollah zu erlauben, sich ein Arsenal von 140.000 verschiedenen Raketen aufzubauen und zuzulassen, dass die Hamas 600 bis 700 Kilometer Tunnel baut und sich bis an die Zähne bewaffnet."

Kurzfristig überschatten die Bodenoffensive im Libanon, das Schicksal der Geiseln in Gaza und das Ringen mit dem Iran alle anderen Themen. Langfristig aber sei die Heilung vom Schock des 7. Oktober das Wichtigste für die israelische Seele, sagt Lavon. Doch er weiß, dass seine Landsleute mit Stress und Schockzuständen umgehen können. Trotz innerer Reibereien herrsche weiter ein starkes Gemeinschaftsgefühl vor. "Die Einheit Israels ist die Stärke, wegen derer uns viele bewundern und hassen", sagt Lavon. "Die jüdische Geschichte ist voller Leid. Doch jedes Trauma hat uns noch stärker gemacht."

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