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Bürgerkrieg in Syrien: Rebellen in Aleppo: Die netten Islamisten von nebenan?



In Syrien sind aufständische Gruppen auf dem Vormarsch und rütteln an der Macht des Regimes. Sie werden als Befreier gefeiert – aber haben eine dunkle Vergangenheit.

Sie brauchten nur drei Tage, um eine Millionenstadt fast vollständig einzunehmen. Sie schlugen Regierungsgruppen des Diktators Baschar al-Assad beinahe widerstandslos in die Flucht. Sie könnten der Anfang sein einer neuen Revolution in Syrien. Mit einer Blitzoffensive haben bewaffnete Rebellen Aleppo eingenommen. Nach acht Jahren Gewaltherrschaft des Regimes wehen in der zweitgrößten Stadt des Landes wieder die Fahnen des syrischen Widerstands. 

Wer aber sind die Kämpfer, die nun in Pick-up-Trucks durch die Straßen patrouillieren, ihre Gewehre zur Siegerpose gen Himmel gereckt? Die Gefängnisse öffnen, Statuen niederreißen, als Befreier gefeiert werden, aber gleichzeitig auf der Terrorliste der Vereinigten Staaten stehen? 

Es ist – wie alles in Syrien – kompliziert. 13 verschiedene Widerstandsfraktionen sollen an der Offensive beteiligt gewesen sein, moderate genauso wie Islamisten. Angeführt wird die Rebellion von einer Gruppe namens Hai'at Tahrir asch-Scham (HTS). Besser bekannt ist sie wohl unter dem Etikett, das sie sich einst zum Ausbruch des Bürgerkriegs gab: Al-Nusra-Front. 

PAID Syrien Rebellenoffensive Interview Fabian 13.20

2011, als Assads Macht zu bröckeln begann, hatte al-Qaida sie als ihren syrischen Ableger gegründet. Kopf der Islamisten: ein Mann namens Abu Mohammad al-Julani. Er hatte zuvor schon im Irak gegen US-Truppen gekämpft. Nun sollte er das syrische Regime stürzen und ein Kalifat errichten. 

Assad hielt sich bekanntlich an der Macht – während al-Julani sich von al-Qaida lossagte, um in Syrien seine eigenen Ziele zu verfolgen. Er verpasste seiner Organisation einen neuen Namen und einen moderneren Anstrich. Für ihn ging es fortan nicht mehr um den globalen Dschihad, sondern um pragmatische Machtausübung. 

Früher ließ der Rebellenführer Kirchen niederbrennen. Heute eröffnet er sie wieder

In weiten Teilen der Provinz Idlib, die Assad nie zurückerobern konnte, errichtete die HTS einen Regierungsapparat mit zehn Ministerien und einer eigenen Polizei. Sie zahlt dort Sozialleistungen aus, koordiniert Hilfslieferungen mit der UN, setzte während Corona eine Maskenpflicht durch. Als Al-Nusra-Führer ließ al-Julani Kirchen niederbrennen. Nun eröffnete er sie wieder, trat mit den christlichen und drusischen Minderheiten von Idlib in Kontakt. Anders als etwa im Afghanistan der Taliban, dürfen Frauen in Idlib studieren und müssen sich nicht vollverschleiern. 

Rebellenführer Abu Mohammad al-JulaniMachtpragmatismus statt Träume vom Dschihad: Rebellenführer Abu Mohammad al-Julani
© Orient News TV / EPA

Gleichzeitig werden der HTS Menschenrechtsverbrechen verschiedenster Art vorgeworfen. In ihren Gefängnissen soll gefoltert und hingerichtet werden. Das US-Außenministerium bietet zehn Millionen US-Dollar für Hinweise, die zur Ergreifung von al-Julani führen. James Jeffrey, der ehemalige US-Sonderbeauftragte für Syrien, nannte die Gruppe einmal dennoch "die am wenigsten schlechte unter verschiedenen Optionen" des syrischen Widerstands. 

Gute Islamisten? Böse Islamisten? In Ankara ist das eher zweitrangig. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zählt die HTS zu einer Reihe von verbündeten, extremen Oppositionskräften, die ihm Einfluss im Norden Syriens sichern. 

Dass die HTS in dieser Woche ohne Wissen des Nachbarlands losstürmte, gilt als unwahrscheinlich. Al-Julani hat seine Kämpfer wohl jahrelang auf genau diesen Moment hin trainiert. Seine Verbände verfügen über ausgebildete Scharfschützen und ein Drohnenarsenal. Experten berichten übereinstimmend, die Türkei habe die offenbar schon länger geplante Rebellenoperation Anfang Oktober noch abwenden können. Von einer "begrenzten Offensive" sei damals die Rede gewesen. 

Syriens zweitgrößte Stadt hat einen neuen Statthalter

Nun also hat die breite Rebellen-Allianz in kürzester Zeit Aleppo eingenommen. Im Netz kursieren Bilder mancher Kämpfer, auf deren Uniformen verdächtige Aufnäher prangen: schwarzer Grund, weiße Schrift, das Erkennungszeichen des Islamischen Staats. Aleppo ist eine diverse Stadt, in ihr leben auch assyrische Christen und Kurden. 

Um Ängste zu zerstreuen, ließ Abu Mohammad al-Julani über die Lautsprecher der Moscheen verkünden: "Handelt nicht grausam, verängstigt keine Kinder und terrorisiert unser Volk nicht – unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Aleppo bleibt, wie es immer war: ein Zentrum der Zivilisationen und Kulturen." 

Der neue islamistische Statthalter von Aleppo gibt sich moderat. Vorerst.

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