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Nach den Enthüllungen über einen Streit zwischen Olaf Scholz und dem Berliner Kultursenator Joe Chialo liegt die Vermutung nahe, dass der Kanzler nicht mit dem ganz filigranen Diskurs-Skalpell operiert hat. Und dann kommt ausgerechnet Friedrich Merz.
Der Vorname Kevin strahlt in Deutschland gemeinhin nicht zwangsläufig den Glanz eines Gütesiegels aus. Eher nimmt man ihn als eine Art vornamengewordenes Meme wahr. Vor den klischeeverliebten Schnelltribunalen unserer heutigen Social-Media-Realität werden einem Kevin pauschal etwa so ausgeprägte Talente für vigilante Scharfsinnigkeiten zugesprochen wie seinem weiblichen Pendant Chantalle. Der Hintergrund dafür ist soziologisch und sprachwissenschaftlich weitestgehend ungeklärt, aber ehrlich gesagt: in Deutschland liegt der Kevin-Anteil im Profifußball tatsächlich deutlich höher als der Kevin-Anteil in Vorständen großer DAX-Unternehmen. Was jetzt erstmal nur eine Beobachtung wiedergibt, keine Evidenz für mögliche Kausalzusammenhänge.
Wobei man jedoch nicht ausschließen darf, prominente Namensvettern könnten zumindest dazu beigetragen haben, dass einem Kevin heute mehrheitlich die kognitiven Fähigkeiten eines Prinz Marcus von Anhalt zugeschrieben werden und weniger die eines Albert Einsteins. Es gibt aber durchaus auch Gegenbeispiele zum grassierenden Kevinismus, die unserer stereotypen Vorurteilsgesellschaft brutal ihre mit Ressentiments getränkten Standbeine weggrätschen.
Egal, wie kühn du bist - Kevin ist Kühnert
Fraglos eines davon ist Kevin Kühnert. Als bekennender Fan von Bayern München und Arminia Bielefeld pflegt er zwar ein prononciert fragwürdiges Verhältnis zu unserem Volkssport, ansonsten kenne ich im politischen Berlin aber niemanden, der Kevin Kühnert als rhetorisches oder intellektuelles Leichtgewicht skizzieren würde. Umso erstaunlicher wirken seine Herzensvereine. FC Bayern und Arminia, das ist in etwa so, als würde man auf die Frage nach dem Lieblingsmusiker antworten: "Johann-Sebastian Bach und H.P. Baxxter!" Was da bei Kühnert als gebürtigem Berliner sozial-edukativ falsch gelaufen ist, bleibt wohl eines der größeren fußballkulturellen Mysterien.
Wie ein Anti-Kevin tritt der fußballverwirrte Kühnert jedenfalls am vergangenen Dienstag für die letzte Bundestagsrede vor der Wahl nochmal ans Plenums-Mikrofon. Wie früher schon gelegentlich in einem Sakko, das leicht zu groß wirkt, vor allem an den Ärmeln. Fast so, als würde er gerade unaufhaltsam in eine tragende Politrolle hineinwachsen. Im Reigen der Schlussakkorde markiert der Auftritt aber gleichzeitig das Gegenteil, nämlich seinen Abschied von der Showbühne Bundespolitik. Schon im vergangenen Oktober hatte Kühnert überraschend und hochrangig bedauert seinen Rückzug von allen Ämtern und Mandaten angekündigt. Sein finaler Redebeitrag wird nun, zu Recht, als Meilenstein in die Demokratiechroniken der Berliner Republik eingehen.
Rechtsüberholer auf dem Standstreifen der Demokratie
Vor allem, weil er seine Rede mit einem in der Sozialdemokratie eher verpönten Manöver beginnt: Er spannt ausgerechnet für Union und FDP einen verbalargumentativen Schutzschirm auf, indem er beide explizit als "keine Faschisten" einordnet. Kurz weht ein Hauch von Panik durch den rot-grünen Plenarsaal-Block. Wird Kühnert auf den letzten Metern seiner Bundestagskarriere zum nestbeschmutzenden Steigbügelhalter für Merz' Kanzlerambitionen? Dem war nach seinem kurzzeitig auflodernden und dann demokratisch weggebügelten Mehrheitstechtelmechtel mit der AfD im Rahmen des Zustrombegrenzungsgesetzes genau dieser Vorwurf gemacht worden: Friedrich, der Faschist. Zumindest implizit.
Klar, die Steilvorlage des Kanzlerkandidaten der Union fand dankbare Abnehmer. Kaum ein Merz-Gegner ließ sich die unverhoffte Gelegenheit entgehen, den Empörungselfmeter eiskalt in die "Merz-Maske ist gefallen"-Maschen zu versenken. Merz muss diese Reaktion einkalkuliert haben, immerhin wird die AfD im demokratischen Spektrum nicht als standesgemäße Koalitionsbraut betrachtet. Promiskuität mit Rechtspopulisten ist für eine überwältigende Mehrheit der politisch interessierten Gesellschaft nach wie vor kein politisches Kavaliersdelikt.
Zur Entspannung der kardialen Grundstabilität im Regierungsblock sagt Kühnert ein paar Sätze weiter dann, Merz' jüngstes Verhalten zeige ein Muster: "Die Opportunität sticht die Integrität." Kaum sind die Verhältnisse wieder geradegerückt und Merz vom linken Kühnert-Haken sichtbar angezählt in die heiße Phase des Wahlkampfes getaumelt, aktiviert man in der Unionsecke auch schon die PR-Maschinen für gezielte Vergeltungsaktionen.
Der Hofnarr stirbt zuletzt
Keine 24 Stunden, nachdem Kühnert feierlich die demokratische Stubenreinheit von Merz beerdigt hatte (so sagen das die politischen Feuilletonisten des neuen politischen Leitmediums TikTok heutzutage), steht bei den Chefstrategen im Adenauerhaus bereits die Rückschlagstrategie. Wie von Zauberhand taucht plötzlich eine da bereits zehn Tage alte Formulierung von Olaf Scholz in den Medien auf. Er soll den Berliner Kultursenator Joe Chialo von der CDU als "Hofnarr" seiner Partei bezeichnet haben. Und das in einem Kontext, in dem man die umgehend folgenden Rassismusvorwürfe zumindest nicht automatisch ins Reich der Fabeln verweisen kann. So soll diese Formulierung nämlich gefallen sein, als Chialo Scholz fragte, ob er die Rassismusvorwürfe an die CDU ernst meine, wo er selbst, Chialo, doch zum Bundesvorstand gehöre. Im ersten Moment wirkt das ungewöhnlich für den stets beinahe schmerzhaft zurückhaltend agierenden Scholz.
Ja gut, das Argument "Die CDU ist nicht rassistisch, weil Joe Chialo sitzt ja im Vorstand" strahlt eine ähnlich argumentative Plausibilität aus wie der Satz "Ich kann kein Sexist sein, ich habe eine Mutter, eine Frau und eine Tochter". Darauf allerdings mit "Du bist doch nur ein Feigenblatt" und "Jede Partei hat ihren Hofnarren" zu reagieren, lässt nicht vermuten, Scholz hätte hier mit dem ganz filigranen Diskurs-Skalpell operiert. Das Totschlag-Buzzword "Rassist" hinterlässt aber ebenso wie sein Zwillingsbruder "Faschist" (das gerade noch von Kevin Kühnert konkurrenzübergreifend und völlig zu Recht stillgelegt wurde) immer Spuren. Vor allem wenige Tage vor einer Wahl, bei der die CSU ein Zusammenspiel mit den Grünen so vehement ablehnt, dass Markus Söder dieser Tage sogar öffentlich den Verzehr von Gemüse verweigerte und die SPD auf ein Ergebnis zusteuert, nach der sie die Sitzungen in ihrem riesigen Fraktionssaal per Videokonferenz werden abhalten müssen - obwohl alle Bundestagsmitglieder vollzählig im Raum sind.
Deutungshoheit beim Hofnarrativ
Klar ist: "Hofnarr" und "Feigenblatt" sind herabwürdigende Formulierungen. Im Intrigenspielerparadies Berlin setzt ihre Enthüllung somit umgehend den handelsüblich alterierenden Erregungsmarathon in Gang. Parteitreue Meinungshandlanger opfern den Rest ihres Tages dafür, den Kurznachrichtendienst X mit mal mehr und (deutlich häufiger) mal weniger vernunftgeleitet verbalisierten Wortmeldungen zu fluten. Meistens mit Aufforderungen, Scholz müsse zurücktreten. Bei den meisten spürt man schon beim Lesen, wie sich der Verfasser vor der Phrasierung seiner Einlassung mit reichlich Scholz-Antipathie in Rage echauffiert hat.
Ganz vorn im Wettlauf zur Entnazifizierung der Sozialdemokratie sprintet Friedrich Merz. Dass der Regisseur des ebenfalls am rassistischen Interpretationsabhang balancierenden Blockbusters "Kleine Paschas" und seines Sequels "Ukrainische Sozialtouristen" die logischste Personalie darstellen soll, um Olaf Scholz einen Rassismus-Skandal anzudichten, scheint zumindest eigentümlich. Und da ist das Merz-Meisterwerk von Migranten, die braven, fleißigen Deutschen Zahnarzttermine wegschnappen, um sich auf Steuerzahlerkosten ihr Gebiss upgraden zu lassen, noch gar nicht mit eingepreist.
Während Merz also in seiner Seifenkiste der Bigotterie die Achterbahn der Doppelmoral runterbrettert, entscheidet Olaf Scholz, sich in der Causa Chialo von einem Anwalt vertreten zu lassen, der sich zuletzt um den Fortbestand der Restreputationen von Till Lindemann und Luke Mockridge bemüht hatte. Betrachtet man also Merz und Scholz als Protagonisten der Zukunft und ihre Handlungsmaxime der jüngeren Vergangenheit, muss man leidvoll erkennen: Beide haben sich dieser Tage als vieles entpuppt. Als Kandidaten, bei denen es absolut unmöglich wäre, jemals passendere zu finden, allerdings definitiv nicht.