
Der angehende Kanzler lässt sich kurz vor dem Ziel nicht von seinem eigenen Wahlkampf aufhalten. Eher dreht Friedrich Merz den Kredithahn auf, bis selbst Immobilienabenteurer Jens Spahn vor Neid erblasst. Halt! Wer redet denn von Schulden? Hier werden Vermögen geschaffen - mit dem Geld kommender Generationen.
Ziele zu setzen, ist wichtig. Die einen wollen mit 30 Jahren Millionär sein, andere Kendall Jenner heiraten. Wieder andere wollen ein Mittel gegen Krebs entdecken und die CDU/CSU, tja, die will am 23. April Friedrich Merz zum Bundeskanzler wählen lassen. Jetzt lässt sich trefflich sinnieren, was realistischer ist. Kann man mit 30 Millionär sein, ohne die Abkürzung Fußball-Nationalspieler genommen zu haben oder wahlweise den Kreditvermittler von Jens Spahn zu kennen, der einst mit seinem spärlichen Ministergehalt ein Immobilienimperium finanzierte, zu dem unter anderem eine 4-Millionen-Euro-Luxusvilla im Berliner Altherrenviertel Dahlem gehörte? Oder wird eher Friedrich Merz am Abend des 23. April Kanzler sein?
Gut, als Richard David Precht des Feminismus müsste ich an dieser Stelle ergänzend zu bedenken geben, warum es landläufig als ausgeschlossen gilt, dass beispielsweise Kendall Jenner ein Mittel gegen Krebs entwickelt. Ich habe allerdings Angst, versehentlich von "Emma" zur Frauenrechtlerin des Jahres gewählt zu werden und bei der Preisverleihung hält dann Sahra Wagenknecht die Laudatio. Abgesehen davon kenne ich Kendall Jenner nicht gut genug, um zweifelsfrei beurteilen zu können, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, sie würde im Laufe ihrer Karriere vom "Vogue"-Cover in die onkologische Forschung wechseln.
Klar ist lediglich: Kendall Jenner wird Friedrich Merz nicht zum Kanzler wählen. Nicht am 23. April und auch an keinem anderen Tag. Das bedeutet jedoch keineswegs den Kehraus für das Kanzlerbegehren der fast 70 Jahre alten CDU-Zukunftshoffnung, denn was haben Kendall Jenner und das Bündnis Sahra Wagenknecht gemeinsam? Genau: Null Sitze im neuen Bundestag. Wen also Kendall Jenner wählen würde, spielt für die kommende Legislaturperiode eine genauso gewichtige Rolle wie Fabio De Masi, der Leiter der SoKo "Stimmzettel-Nachjustierung" beim LKA Moskau. Nämlich gar keine.
Andi Scheuer, der Jens Spahn für Arme
Wie Fabio De Masi wohnt, darüber habe ich keine dezidierten Informationen. Kendall Jenner lebt aber in Los Angeles in einer Villa, für deren aktuellen Marktwert sogar Jens Spahn ziemlich tief in die Kredittrickkiste greifen müsste. Stichwort Spahn: Nachdem sich mit dem Aus der Merkel-Ära landesweite Aufbruchstimmung ausgebreitet hatte und mit ihr die Hoffnung, Jens Spahn würde sich fortan nur noch als müder Meme-Gag á la "Den hätte die CDU sich Spahn können" verdingen, mischt der Endgegner des ausgeglichenen Bundeshaushalts nicht nur weiterhin munter in der CDU-Fraktion mit, sondern sitzt auch mit am berühmten Sondierungstisch, an dem CDU/CSU und SPD die Weichen für eine zukünftige Schwarz-Rot-Koalition stellen wollen.
Und damit nicht genug. Tatsächlich gilt Spahn sogar als ernsthafter Anwärter auf das Wirtschaftsministerium. Das wäre ein bisschen so, als würde Luke Mockridge das Bundesamt für Wahrnehmung von Frauenrechten und Opferschutz leiten. Nachfolgende Generationen werden das Sprichwort "da habt ihr aber den Bock zum Gärtner gemacht" in "da habt ihr den Spahn zum Wirtschaftsminister gemacht" umdichten. Zu Recht. Gegen die 2,3 Milliarden Euro, die Politikwunderkind Spahn allein in Maskendeals versenkt hat, klingt selbst das Maut-Debakel von Andi Scheuer nach Portokasse.
Womit wir beim Thema Geld und damit, natürlich, Schuldenbremse wären. Es ist bereits ausführlich darüber berichtet worden, wie Friedrich Merz monatelang - genauer gesagt bis ziemlich genau zum 23. Februar um 18:00 Uhr - nicht müde wurde, gemeinsam mit seinem inzwischen auf kanzleroptimierte Zweckfreundschaft umprogrammierten Bierzelt-Sozius und Grünen-Antagonisten Markus Söder potenziellen Unionswählern zu beteuern, eine Auflockerung der Schuldenbremse wäre mit der CDU/CSU noch ausgeschlossener als eine Verlobung von Donald Trump und Annalena Baerbock. Das wurde so eindeutig formuliert, da strahlte sogar Christian Lindner bis über beide Turbokapitalismusohren.
Wobei, bis dahin hatte er auch noch fest geglaubt, seine "Finanzminister Christian Lindner"-Visitenkarten würden zeitnah Anschlussverwendung finden. APO statt Ministerium, da hing der liberale Haussegen natürlich tiefer als die Mundwinkel von Angela Merkel, als die CDU Merz zum Kanzlerkandidaten ausrief. Übrigens: APO klingt wie eine Terrororganisation. Wenn man sich die FDP-Strategie in den Ampel-Jahren anschaut, keine vollkommen abwegige Theorie. Tatsächlich ist APO aber die Abkürzung für Außerparlamentarische Opposition. Quasi der Koitus Interruptus für Machtpolitiker. Man kann zwar mitreden, verfügt aber als gesamt-FDP über exakt so viele Bundestagsmandate wie ich, Kendall Jenner und Fabio di Masi zusammen.
Schuldenbremsklötze lockern
Aber zurück zur unionsübergreifenden SBBB-Taktik (Schuldenbremsen-Beibehaltungs-Beteuerung). Wahltaktisch ein glänzender Schachzug. Nicht nur, um Lindner bei Laune zu halten, sondern vor allem, weil viele Wählerschichten für die Union inzwischen schwierig zu erreichen sind. Doch wäre der Staat pleite, weil keine neuen Schulden gemacht werden, da muss man kein Genie an der Wahlurne sein, wird es vor allem mit ohnehin umstrittenen Ausgaben schwierig. Etwa mit Ukraine-Hilfen. Schuldengeldhahn bleibt zu, das bedeutet also auf gewisse Weise auch: Putin jubelt mit. Ein Move, von dem sich Merz womöglich erhofft hatte, kremlsympathisierende Wechselwähler vom BSW zurück auf die Seite der grundsolide schuldenfrei regierenden Superunion zu ziehen.
Es ist kein Geheimnis, dass Merz inzwischen ohne FDP koalieren muss. Mit Neu-Wunschpartner SPD stehen aber plötzlich Themen wie Mindestlohn, Rente oder Stärkung der Bundeswehr auf der To-Do-Liste, die offenbar aus den laufenden Steuereinnahmen nicht finanzierbar sind, ohne Unions-Lieblingsthemen wie Dienstwagenprivileg oder Steuergeschenke für Superreiche anzutasten. Folgerichtig schob Friedrich Merz seine Koalitionslimousine nach den ersten informellen Vorsondierungstelefonaten mit SPD-Wahlgewinner Lars Klingbeil lieber schnell durch den Fakten-TÜV und ließ die Schuldenbremsbeläge noch mal etwas nachlockern.
Und Klingbeil, der in der skurrilen Situation die sozialdemokratische Karriereleiter hochpurzelt, mit dem historisch schlechtesten Ergebnis bei einer Bundestagswahl vermutlich die historisch beste Verhandlungsposition zu haben, ließ sich offenbar nicht lange bitten. Parlamentarische Demokratie. Man muss sie einfach lieben. Als Merz also aufgelegt, schnell ein paar Kernzahlen durchkalkuliert und dann wutentbrannt seinen Taschenrechner an einem Feldweg in der Einöde seiner sauerländischen Heimat verbuddelt hatte, sah er sich gezwungen, die Koordinaten seines Politik-Navigationsgerätes nochmal umfangreich nachzujustieren. Statt zum Festgeldkonto ging es plötzlich doch in die Kreditabteilung. Und wenn man schon mal da ist, dann aber auch richtig.
Wer ist hier die schwarze Null?
Statt der schwarzen Null sollen jetzt nämlich direkt satte 900 Milliarden zusätzliche Schulden den Koalitionshaushalt schmücken. Eine recht imposante Zahl. Vor allem, wenn man weiß, dass 2024 die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden insgesamt nur knapp 861 Milliarden Euro betrugen (ohne Gemeindesteuern). Aber was will man machen? Klingbeil möchte soziale Themen finanzieren und vor allem nicht zu viele Nachfragen zu fragwürdigen Zahlungen an dubiose NGOs beantworten. Merz möchte die Themen "Merz wird Kanzler" und vor allem "Kanzler Merz" in trockene Tücher bringen.
Um die Dramatik hinter dieser imposanten Neuverschuldung zu kaschieren, hat man in hübscher Polit-Tradition die Vokabel "Schulden" schon vor langer Zeit in "Sondervermögen" umgewidmet. Das Vorgehen kennt man aus der Nahrungsmittelindustrie, wo "Schlechtere Zutaten, weniger Inhalt, dafür aber teurer" inzwischen "Neue Rezeptur!" heißt. Neues Sondervermögen klingt auch viel geschmeidiger als neuer Schuldenberg. Sondervermögen, da schwingt der Sound eines strahlenden Lottogewinners mit, der das Geld mit vollen Händen ausgeben kann. Da freuen sich auch die kommenden Generationen. Die müssen die heutige Sondervermögen-Suppe ja später auslöffeln. Aber immerhin bekommen sie 900 Milliarden Schulden vererbt, dafür aber keine spürbaren Investitionen in Klimaschutz. Einfach herausragend, wie die angehende Koalition in eine sichere, sorgenfreie Zukunft investiert.
Bei so viel finanzieller Weitsicht ist es eigentlich undankbar, dass die Fridays For Future Generation nicht schon längst vollzählig vor dem Brandenburger Tor steht, Transparente mit "Danke Merz" sowie "Lieber Klingbeil als Fallbeil!" in den Abendhimmel reckt und "Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns 'nen Dispo baut!" skandieren. Immerhin haben sie die Ehre, dieses schnuckelige Sondervermögen später exklusiv tilgen zu dürfen. Und welche Möglichkeiten dieses Sondervermögen erst uns einfachen Leuten von der Straße eröffnet! Ich beispielsweise werde ab heute jede Postwurfsendung mit Strafmandaten für Geschwindigkeitsübertretung ungeöffnet mit dem Hinweis an die Dienststellen zurücksenden, das sei kein zu schnelles Fahren gewesen, sondern ein Sondertempo.