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Analyse: Die große Illusion – warum keine Nato-Truppen in der Ukraine kämpfen werden



Die Ukraine braucht dringend Soldaten. Westliche Länder könnten Truppen entsenden, sagen Experten. Doch ist der Westen wirklich bereit, gegen Russland zu kämpfen?

Der deutsche Militärexperte Carlo Masala hat die Möglichkeit zur Entsendung europäischer Bodentruppen gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) ins Spiel gebracht. "Wir brauchen eine Rückfalloption für den Fall, dass die USA ihre Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen", sagte der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Es gehe um die "Koalition der Willigen, die im Zweifel auch bereit ist, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden".

Natürlich ist ein deutscher Professor nur ein Beobachter und kein Handelnder. Masala sagte, derzeit sei "viel in Bewegung, in Frankreich, Großbritannien und Polen". Nur Deutschland sei außen vor, wenn auch Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius versuche, Deutschland wieder ins Spiel zu bringen. Doch seine Aussage war etwas voreilig, der britische Außenminister David Lammy distanzierte sich bereits von solchen Überlegungen.

Die Ukraine weicht zurück

Warum kommt das Beispiel gerade jetzt auf? Die Frage nach Bodentruppen wird dann diskutiert, wenn es für die freie Ukraine besonders schlecht läuft. Schon vorher wurde diese Option erwogen. Damals lief die Idee darauf hinaus, mit den Truppen eine Verteidigungslinie hinter der Front aufzubauen. Wenn es nötig gewesen wäre, hätten die ukrainischen Streitkräfte sich hinter diese Linie zurückziehen sollen. Die optimistische Vision war, dass die Russen es nicht wagen würden, die Westler direkt anzugreifen und diese quasi als Sicherheitsschirm den weiteren Vormarsch der Kreml-Armee verhindern würden.

Derzeit spitzt sich die Lage an der Front im Osten zu. Vor allem an der Süd-Donezk-Front rücken die Russen unentwegt vor und bereiten den Ukrainern eine Niederlage nach der anderen. Keine Seite veröffentlicht Verlustzahlen, doch der permanente Druck der Russen, ihre überlegene Feuerkraft und ihr besseres taktisches Vorgehen werden aufseiten der Ukraine zu hohen Verlusten führen. Zumal verstärkt schlecht ausgebildete Wehrpflichtige in die Brennpunkte geworfen werden, die weder für den Häuserkampf noch für ein zurückweichendes Gefecht geeignet sind. Konkret droht die Gefahr, dass die ukrainische Verteidigung auf breiter Front kollabiert und die Russen dann ungehindert vordringen können, weil Kiew keine strategischen Reserven mehr besitzt, um dem Vormarsch mit einer neuen Kräftegruppe zu begegnen.

Engagement Nordkoreas in der Ukraine 

Kiew fehlt es an vielem, aber vor allem an Soldaten. Diese könnten die westlichen Unterstützer liefern. Um einen Unterschied zu machen, müssten sie allerdings auch kämpfen. Dazu gibt es einen weiteren Hintergrund. Beide Seiten setzen in großem Maßstab ausländische Kämpfer ein. Dabei nennen sie die eigenen "Freiwillige" und die des Gegners "Söldner". Doch nun hat Nordkorea komplette Truppenverbände nach Russland geschickt. Die Rede ist von etwa 10.000 Mann. Es gibt zwar keinen Beweis, dass diese Soldaten an Kämpfen teilgenommen haben, dennoch ist das für Kiew eine bedrohliche Entwicklung. Bei den 10.000 Mann dürfte es sich um Kampftruppen handeln, ihre Zahl ist daher höher einzuschätzen als eine normale Truppenstärke, bei der ein guter Teil der Soldaten nicht zu den Kämpfenden gehört. Noch bedrohlicher: Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kim Jong-un die Zahl massiv erhöht.

Politische Kosten einer Entsendung

Jede Regierung, die Bodentruppen in die Ukraine schickt, wird sich einer öffentlichen Diskussion stellen müssen. Diese Frage wird emotionaler und polarisierender diskutiert werden als die bisherige Ukrainehilfe. Niemand kann den Ausgang vorhersagen, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die Bevölkerung in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland geschlossen hinter eine solche Entscheidung stellen würde. Zumal die Regierung in Frankreich umstritten ist und die Regierungen von Großbritannien und Deutschland sogar angeschlagen sind. Um der zahlenmäßigen Überlegenheit der Russen und ihrer Verbündeten entgegenzuwirken, müssten namhafte Truppenteile entsandt werden. Der Vergleich der Truppenstärke im Kriegsgebiet geschieht in der Dimension von Hunderttausenden, einige Tausend machen keinen Unterschied. Damit Briten und Franzosen über 1000 Kilometer entfernt von ihrer Basis operieren könnten, wären umfangreiche Vorbereitungen nötig – die allerdings schon angelaufen sein können.

Eskalation II Ukraine 16.20

Der Westen produziert nicht genügend Waffen

Neben dem politischen Erdbeben wäre die Versorgung der Truppen das größte Problem. Wenn sie tatsächlich kämpfen würden, bräuchten sie Gerät, Ausrüstung, Munition und sonstige Versorgungsgüter. Und diese Güter würden nicht als Einmalausstattung benötigt, im Krieg würden sie verbraucht. Frankreich und Großbritannien haben etwa 300 Kampfpanzer, Deutschland die gleiche Menge. Sie sind nicht zu hundert Prozent einsatzfähig. Angenommen, 400 bis 500 Panzer sind einsatzbereit und man würde die Hälfte in die Ukraine entsenden, dann wäre das eine signifikante Zahl, aber lange nicht genug, um eine Wende herbeizuführen.

Zum Vergleich: Im Westen nimmt man an, dass Russland im Jahr 1500 Kampfpanzer neu produziert – teils modernisierte alte Panzer aus dem Lager, teils neu aufgebaute. Bei Artillerie ist das Missverhältnis noch größer. Um ein signifikantes Truppenkontingent im Kampf zu versorgen, müssten die Westländer zumindest partiell in die Kriegswirtschaft übergehen. Im Westen sind keine Lager vorhanden, die die Truppen wochenlang im Kampf versorgen können. Kriegswirtschaft bedeutet weitreichende Eingriffe in die freie Wirtschaft und in den Arbeitsmarkt. Und auch hier braucht es einen Vorlauf, erst Monate, nachdem so eine Entscheidung getroffen wurde, ist tatsächlich mit Ergebnissen zu rechnen. Andernfalls läuft man Gefahr, dass die "Expeditionsarmee" schon nach zwei Wochen unter Mangel leidet.

Oreschnik Rakete ART_1053

Bevorzugte Ziele

Angenommen, die Russen ließen sich nicht von einem Sicherheitsschirm abschrecken, dann käme es auf dem Gebiet der Ukraine zum Kampf. Dann wäre damit zu rechnen, dass die Westtruppen die bevorzugten Ziele der Russen sind, mit dem Kalkül: Hohe Verluste sollen die Moral der Truppen, die nur den Frieden gewohnt sind, brechen und auf die Stimmung daheim wirken.

Wie das funktioniert, sieht man beim Kampf gegen westliches Großgerät. Putin führt den Krieg aus dem prallen Portemonnaie – für Abschüsse gibt es nicht nur Orden, sondern Bares. Für Westgerät besonders, teils wird das Staatsgeld von Spendern noch aufgestockt.

Der Kampf in der Ukraine ist ein großer konventioneller Krieg mit entsprechenden Verlusten und keine Besatzung wie in Afghanistan. Länder, die an ihm teilnehmen, müssen bereit sein, Verluste zu ertragen – wenn es schlecht läuft, Hunderte oder gar Tausende in wenigen Wochen. Die Russen würden alles, was sie haben, auf die Westler werfen. Wenn es zu direkten Kämpfen zwischen Russen und West-Truppen käme, wäre es schwer vorstellbar, dass der Krieg auf das Gebiet der Ukraine begrenzt bliebe. Dann könnte der regional begrenzte Krieg schnell zu einem großen europäischen werden.

Ungenügend ausgerüstet

Schließlich fragt sich, ob die Armeen des Westens auf diese Form des Krieges überhaupt vorbereitet wären. In der Ukraine hat jedes Bataillon eine eigene Einheit zum Einsatz und zur Abwehr von Drohnen. Die Fahrzeuge sind mit Störsendern ausgestattet, die Sturmtrupps auch. Käfige und Netze schützen Panzer und Stellungen. Dazu werden spezielle Waffen gegen Drohnen eingesetzt – großkalibrige Schrotflinten oder gebündelte Maschinengewehre. So etwas ist im Westen nur in Ansätzen verfügbar.

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