
30 Tage nach der Bundestagswahl kommt erstmals der neue Bundestag zusammen. Die Sitzung lässt tief blicken, was in dieser Legislaturperiode bevorsteht: Die AfD strotzt vor Selbstbewusstsein. Alterspräsident Gysi hält eine eher polarisierende Rede, anders als die neue Bundestagspräsidentin Klöckner.
Symbolischer geht es kaum: Das erste Wort im Plenum des neuen Bundestags geht an die AfD. Die unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehende Partei stellt mit 152 Sitzen die zweitgrößte Fraktion. Rund jeder vierte Bundestagsabgeordnete trägt die blauen Farben, darunter Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann. "Erbärmlich" und "perfide" sei die Änderung der Geschäftsordnung aus dem Jahr 2017, zetert Baumann. Diese legt fest, dass der dienstälteste Bundestagsabgeordnete die konstituierende Sitzung des Bundestags leitet, nicht wie zuvor der oder die nach Lebensjahren älteste. So hält Linkspartei-Urgestein Gregor Gysi die Eröffnungsrede und nicht der sieben Jahre ältere AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland.
Kaum habe die 21. Legislaturperiode begonnen, "schon versucht die AfD Chaos zu stiften", hält Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Irene Mihalic entgegen. Es ist nicht der letzte Streit an diesem Tag zwischen AfD einerseits und CDU, CSU, SPD, Grünen und Linkspartei andererseits. Die AfD will auch den Wahlmodus des Bundestagspräsidiums ändern, etwa faktisch die Wahl eines AfD-Kandidaten erzwingen. Der Antrag fällt durch. Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner sagt hierzu: "Das ist widerlich, das ist erbärmlich, was Sie hier abziehen." Gysi mahnt ihn zur Mäßigung. Der Thüringer führt mit 20 Ordnungsrufen die Liste der Missetäter der vergangenen Legislaturperiode an. Doch diese dienen laut Brandner eh nur dazu, "um uns zu diskreditieren".
Kaum Applaus für den Alterspräsidenten
Zwischen den beiden Geschäftsordnungsdebatten darf Gysi seine mit Spannung erwartete Rede halten. Der frühere SED- und PDS-Politiker ist ein unbestritten großes rhetorisches Talent und seit vielen Jahren einer der besten freien Redner im Bundestag. Diesmal aber hält er sich strikt an sein Manuskript, das durch alle denkbaren Themen mäandert: Aufrüstung, Nahostpolitik, Steuerrecht, Ungleichbehandlung von Ost- und West, die Aufarbeitung der Pandemie, Bürgergeld, Gregor Gysis eigene Lebensleistung, die Würdigung von Otto von Bismarck und Karl Marx, mehr bundesweite Feiertage, und, und, und...
"Gregor Gysi präsentiert: Ein Kessel Buntes", kommentiert der Grünen-Abgeordnete Konstantin von Notz. Der Applaus seiner Fraktion fällt ebenso spärlich aus wie bei der SPD. Von CDU und CSU applaudiert fast niemand, die AfD erst recht nicht. Mehrere Unionsabgeordnete artikulieren ihren Protest gegen Gysi wegen dessen Rolle zu DDR-Zeiten. Die im neuen Parlament 61 Linke-Abgeordneten (plus Gysi) reißt es dafür von den Stühlen. Als einend und verbindend wird Gysis wildes Potpourri an Positionen und Meinungen Gysis offenbar nicht empfunden.
Dennoch bleiben Sätze dieser Rede, die sich die Abgeordneten durchaus zu Herzen nehmen könnten. "Wenn wir mehr Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung erreichen wollen, sollten wir in unserer Sprache das Maß wahren und nicht immer Menschen mit anderer Auffassung das Übelste unterstellen", sagt Gysi. Befürwortern einer Aufrüstung und deren Gegnern etwa gehe es im Kern um dasselbe: den Frieden in Deutschland zu wahren. "Unsere Sprache muss auch allgemeinverständlicher werden", fordert Gysi sowie mehr Ehrlichkeit über "die wahren politischen Beweggründe für Entscheidungen".
Klöckner will für "Anstand" sorgen
Mehr Applaus für ihre Rede erntet die neue Bundestagspräsidentin, die CDU-Politikerin Julia Klöckner. Sie wird mit 382 von 622 abgegebenen Stimmen gewählt. Die rund 60 Stimmen mehr, als die Fraktionen von Union und SPD haben, dürften maßgeblich aus dem Lager der Grünen stammen. Das vergleichsweise schwache Wahlergebnis von rund 61 Prozent Zustimmung spiegelt die Tatsache wider, dass im neuen Bundestag mit AfD und Linke mehr als ein Drittel der Abgeordneten nicht dem Lager der traditionellen Mitte-Parteien angehören.
Klöckner kündigt an, in ihrem neuen Amt für "Anstand" sorgen zu wollen. "Ich werde darauf achten, dass wir ein zivilisiertes Miteinander pflegen und - wenn wir es nicht tun - erlernen", sagt die 52-jährige Rheinland-Pfälzerin. Den AfD-Rednern, die im Zusammenhang mit den ihr verwehrten Parlamentsposten von "Kartellparteien" sprechen, gibt Klöckner mit: "Mehrheiten, die demokratisch gefunden worden sind, das sind keine Kartelle." Zugleich wirbt sie um Annäherung und den Versuch, die Gegenseite zumindest zu verstehen. "Wir kommen nicht ins Stolpern, nur weil wir einen Schritt aufeinander zugehen."
Überparteilich gerät Klöckner Rede trotz neuer Rolle nicht. 23 Wahlkreiskandidaten hätten die jeweils meisten Erststimmen gewonnen "und nun kein Mandat zugeteilt bekommen", erinnert Klöckner an die Folgen des neuen Wahlrechts. Dieses geht vor allem zulasten von Unionsabgeordneten. Klöckner mahnt deshalb eine abermalige Reform an. Mit der Christdemokratin sitzt auch wieder eine gläubige Christin dem Bundestagspräsidium vor. Klöckner zitiert in ihrer Rede Papst Franziskus und beendet ihre Rede mit dem Hinweis, dass Politiker nur vorletzte Entscheidungen träfen - die allerletzte liege nicht der Hand der Menschen.
Mehr Anklang bei den Fraktionen links der Union dürfte Klöckners Mahnung finden, dass der Frauenanteil mit nur einem Drittel im neuen Parlament zu niedrig ist. Es sind die Union mit einem Frauenanteil von 22 Prozent sowie die AfD mit gerade einmal 11 Prozent, die die Quote nach unten ziehen. Klöckner regt an, auch die Arbeit der Abgeordneten etwas familienfreundlicher zu gestalten, insbesondere für Mütter mit kleinen Kindern.
"Ein Parlament, das für alle spricht, sollte die gesellschaftlichen Gruppen angemessen repräsentieren", sagt Klöckner, beschränkt sich aber auf die Geschlechterfrage. Dabei kommt keine Fraktion an den laut Mediendienst Integration 29 Prozent großen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland heran. Mit einem Anteil von je rund 6 Prozent fallen AfD und Union hier aber besonders deutlich ab.
AfD-Kandidat scheitert, Ramelow knapp im Präsidium
Die niedrige Zahl, die die AfD-Fraktion tatsächlich stören dürfte: Ihr Kandidat für den Vize-Bundestagspräsidenten, Gerold Otten, erhält nicht die erforderliche Mehrheit. Im ersten Wahlgang erhält er aber 33 Stimmen mehr, als die AfD Mandate hat. Die AfD strengt daraufhin erneute Wahlgänge an, auch wenn sie aussichtslos sind.
Neben Klöckner gehören dem neuen Bundestagspräsidium folgende Politiker an: Die CSU entsendet die Innenpolitikerin Andrea Lindholz aus Aschaffenburg. Für die SPD zieht die 38-jährige Josephine Ortleb in das Gremium ein, die ihren Wahlkreis Saarbrücken direkt gewonnen hat. Die Personalie kann als Signal der personellen Erneuerung gedeutet werden, die Partei- und Fraktionschef Lars Klingbeil nach dem SPD-Wahldebakel versprochen hatte.
Die Grünen bringen mit dem im November vorzeitig vom Parteivorsitz zurückgetretenen Omid Nouripour ihren Kandidaten durch. Der im Iran geborene Nouripour hatte sich am Vortag in einer geheimen Wahl in seiner Fraktion gegen die vormalige Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt sowie die scheidende Kulturstaatssekretärin Claudia Roth durchgesetzt.
Einen geborenen Ostdeutschen findet man im neuen Bundestagspräsidium nicht, nachdem Petra Pau dort nicht mehr die Linke vertritt. Die Linksfraktion entsendet stattdessen den ehemaligen Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow. Mit 318 Stimmen erhält er denkbar knapp die notwendige Mehrheit: zwei Stimmen über den Durst. Die Unionsabgeordneten können sich offenbar mehrheitlich nicht durchringen, ihn zu wählen. Ramelow kam gleich nach der Wiedervereinigung aus Niedersachsen in den Osten, doch wie ihm Fraktionskollege Dietmar Bartsch im ntv-Podcast mitgab: "Wenn eine Katze im Fischladen geboren ist, ist sie noch lange kein Fisch."