Zum Wochenende: Kulturverlust

Artikel Bild
Gesellschaftliche Modernisierung und Kulturverlust sind gegensätzlich. Am Beispiel der Musik wird der Gegensatz zu einer Frage für euch.

Bevor ich über einen vermeintlichen Kulturverlust und die gesellschaftliche Modernisierung schreibe, möchte ich die Begriffe klären. Was bedeutet 'Kultur', was heisst 'gesellschaftliche Modernisierung'?

Kultur bezeichnet im weitesten Sinne alle Erscheinungsformen menschlichen Daseins, die auf bestimmten Wertvorstellungen und erlernten Verhaltensweisen beruhen und die sich wiederum in der dauerhaften Erzeugung und Erhaltung von Werten ausdrücken – als Gegenbegriff zu der nicht vom Menschen geschaffenen und nicht veränderten Natur.

Modernisierung beschreibt und erklärt in der Soziologie den sozialen Wandel als Übergang von einer traditionalen Form von Gesellschaft oder Kultur hin zu moderneren Formen, etwa der Industriegesellschaft, zu Demokratisierung, Verstädterung, sozialer Differenzierung, Individualisierung, Bürokratisierung oder Globalisierung.

Als Beispiel für "Kulturverlust" möchte ich die Entwicklung bei der Musik nennen. Musik ist zweifelsfrei ein Kulturgut, welches die Menschheit von Anbeginn begleitet:

Musik als Kulturgut existiert seit den frühesten Anfängen der menschlichen Zivilisation. Die anatomischen Voraussetzungen für differenzierten Gesang entwickelten sich vor etwa zwei Millionen Jahren mit dem Homo ergaster. Die ältesten bisher gefundenen Musikinstrumente sind etwa 40.000 Jahre alte Flöten.

In dieser langen Geschichte hat sich nicht viel verändert. Menschen haben gesungen und musiziert. Ein wichtiger Meilenstein war die Konservierung von Musik. Von Wachswalzen über Schallplatten, Tonbänder und Audio-Dateien hat sich die Konservierung und Verfügbarkeit in den letzten 100 Jahren technologisch weiterentwickelt. Die Quelle waren immer Menschen mit ihren Instrumenten. Die Erfindung des Synthesizers sehe ich nicht als Bruch dieser Tradition. Es war und ist lediglich ein Universalinstrument. Über eine lange Zeit befanden sich Tonträger im Besitz von Personen.

Umbrüche

Ein Umbruch war das Aufkommen von Musik-Streamingdiensten. Der Besitz wich einer temporären Nutzungslizenz. Der Deal war: "Du kannst nicht alle Musik besitzen, aber du kannst alle Musik als Dienstleitung hören." Mir geht es gar nicht um die Vergütung der Künstler:innen. Die war vermutlich immer ungerecht, auch bevor es Streamingdienste gab.

Je länger, desto öfter, habe ich den Eindruck, dass sich die kulturelle Schöpfung bezüglich der Inhalte verschlechtert hat. Es scheint eine Zeitspanne zu geben (30 Jahre?), nach der man alte Musik ausgraben und neu interpretiert wieder verkaufen kann. Mir fällt es schwer, die kulturelle Kreativität beim Aufwärmen alter Werke zu erkennen. Mein subjektiver Eindruck ist, dass die Neuschaffungen abnehmen und die Wiederverwendung von altem Musikmaterial zunimmt. An dieser Stelle hätte ich gerne mittels der aktuellen Musik-Charts gezeigt, dass 80 % der Titel keine Neuschöpfungen sind. Aufgrund der Weihnachtszeit macht das wenig Sinn, weil 100 % aller Songs alter Kram sind.

Nun sehe ich die nächste Disruption: Suno statt Spotify. Wie ihr euch bereits denken könnt, besteht diese kulturelle Revolution im Austausch von menschengemachter Musik durch KI-Musik. Seit einer Weile wird Spotify mit künstlich generierter Musik geflutet. Dieser Artikel bei Zeit-Online "Die Matschepampe, die unsere Spotify-Listen zumüllt" fasst es gut zusammen. Der Firma Spotify kann das egal sein, weil ihr Geschäftsmodell nicht die Musik, sondern die Aufmerksamkeit der Abonnent:innen ist. Ich verweise auf unsere letzte Podcast-Folge zur Aufmerksamkeitsökonomie. Ob die Musik von Menschen oder generativer KI kommt, interessiert Daniel Ek nicht. Selbstverständlich ist Spotify nur ein Beispiel unter den vielen Musik-Streamingdiensten, die alle dasselbe Geschäftsmodell haben.

Doch was halten die Musikliebhaber:innen davon? Also ihr, die ihr ein Spotify-Abo habt. Darüber kann ich nur spekulieren. Vermutlich gibt es Hörer:innen, denen die Authentizität der Musik wichtig ist. Es sollen Musikschaffende aus Fleisch und Blut sein, die man auch auf der Bühne sehen möchte. Es gibt auch solche, denen die Künstler und Künstlerinnen egal sind; diejenigen, die nur Musik hören möchten, egal, woher sie stammt. Das Musikschaffen lässt sich leicht von der Bühnenshow separieren. Wer sagt denn, dass Musiker Rampensäue sind? Die kann man problemlos durch Schauspieler ersetzen.

Auftritt: Suno

Ich verfolge den Dienst Suno seit einiger Zeit. Im April habe ich darüber geschrieben. Am Anfang war es eine Plattform, auf der man sich sein eigenes Musikstück prompten konnte. Diese Funktion gibt es auch heute noch, doch es ist mehr hinzugekommen.

Jetzt kann man Freunde einladen, folgen und Follower haben, in der Library Songs und Playlisten verwalten. Man kann nach Songs, Playlisten und anderen Usern suchen, oder im Explore-Modus neue Genres entdecken:

Damit reduziert sich der Unterschied zwischen den bekannten Musik-Streamern, wie Spotify, und den KI-Musik-Plattformen. Wenn handgemachte Musik ohnehin von KI-Musik überrannt wird, sind Spotify und Co. überflüssig. Die Sunos der Neuen Welt bauen euch genau das, was ihr wollt: Musik nach eurem Geschmack, viele Funktionen, sozialer Austausch.

Ausprobiert

Wie bitte, ihr glaubt mir nicht! Dann probiere ich es für euch aus. Nehmen wir an, es ist Sonntagmorgen um 11 Uhr und ich möchte einen chilligen Song im Stil von Carlos Santana hören. Dann suche ich entweder nach dem passenden Stil oder prompte mir etwas. Die Ergebnisse überzeugen mich nicht, aber man erkennt das Potenzial. Ihr könnt euch selbst einen Eindruck verschaffen.

Leider ist der Prompt bei Suno auf 200 Zeichen beschränkt. Damit kann man nicht ernsthaft Prompten. Um ein ausreichendes Ergebnis zu erzielen, benötigt man längere Prompts. Hier ist ein Beispiel, wenn man 'Samba pa ti' mag:

Create a soothing instrumental track inspired by 'Samba Pa Ti' by Carlos Santana. The song should feature:

    Genre: Latin Rock with elements of Psychedelic Rock
    Mood: Melancholic and reflective, conveying emotions of nostalgia and longing
    Instrumentation:
        Prominent electric guitar with a smooth, expressive melody
        Soft percussion to maintain a gentle rhythm
        Background strings to add depth and warmth
    Tempo: Moderate, around 80 BPM
    Style Elements: Incorporate Santana's signature guitar tone, characterized by sustained notes and emotional phrasing. Include smooth transitions between sections to create a flowing feel.

Make sure the song has a memorable melodic hook that resonates emotionally, similar to the way 'Samba Pa Ti' does.

Ich präsentiere hier keine von mir generierten Lieder, weil sie alle Matschepampe sind.

Gesellschaftliche Modernisierung

Nun stellt sich die Frage, was ihr davon haltet. Ist das gesellschaftliche Modernisierung oder ist es Kulturverlust? Hört ihr lieber KI-Musik, wenn die echten Künstler:innen nichts Neues erfinden, sondern nur bestehende Musik aufwärmen können? Was ist euch wichtiger, die Musiker:innen oder deren Musik?

Hier ist meine Meinung: Von Menschen gemachte Musik ist bald tot. Ihr Erbe steckt in den neuronalen Netzen der KI-Musik-Modelle, wodurch sie nicht verloren ist. Wer nur noch repliziert, wird repliziert. Niemand will den siebten Aufguss von Songs hören, die in den 80er-Jahren erfunden wurden. Wir befinden uns in einer Übergangsphase.

Die gesellschaftliche Modernisierung betrifft nicht nur die Musik; sie wirkt auf alle kulturellen Bereiche:

  • Bildende Kunst
  • Literatur
  • Sprache
  • Schrift
  • Religion und Spiritualität
  • Sitte und Gebräuche
  • Bildung
  • Architektur

Bildquelle: https://pixabay.com/illustrations/face-woman-art-photoshop-638845/

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Kultur

https://de.wikipedia.org/wiki/Modernisierung_(Soziologie)

https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Musik

https://www.zeit.de/digital/internet/2024-11/ki-musik-spotify-streaming-plattform

https://suno.com/


GNU/Linux.ch ist ein Community-Projekt. Bei uns kannst du nicht nur mitlesen, sondern auch selbst aktiv werden. Wir freuen uns, wenn du mit uns über die Artikel in unseren Chat-Gruppen oder im Fediverse diskutierst. Auch du selbst kannst Autor werden. Reiche uns deinen Artikelvorschlag über das Formular auf unserer Webseite ein.