Lange hat Deutschland nicht so unbefangen über Ausländer debattiert. Man täusche sich nicht: Das hat Folgen für alle, die anders aussehen.
Die Berliner Staatsanwaltschaft und ich tragen dieser Tage eine kleine rechtliche Meinungsverschiedenheit aus: Die Ermittlungsbehörde hält mich für einen Volksverhetzer, ich dagegen nicht. Entzündet hat sich der Disput an einem getwitterten Satz, der so auch in dieser Kolumne vor fast exakt einem Jahr erschien: "Wenn in der Sonnenallee drei Menschen ohne deutschen Pass 'from the river to the sea' rufen, muss das Nächste, was sie sehen, eine Phalanx von Polizisten mit gezückten Schlagstöcken sein."
Der zuständige Staatsanwalt Herr F. hält den Tatbestand des Paragraphen 130 Strafgesetzbuch für erfüllt und beantragte beim Amtsgericht Tiergarten einen Strafbefehl. Drei Monate bis fünf Jahre Gefängnisstrafe gibt es dafür immerhin. Dieser Strafbefehl gegen mich ist auch deshalb ein bisschen keck, weil der Slogan 'from the river to the sea' seinerseits durchaus aus allerlei Gründen strafbar sein kann. Wie auch immer: Das angerufene Amtsgericht knallte dem Juristen knapp das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Artikel 5 um die Ohren - und lehnte den Strafbefehl ab. (Herr F. kann aber noch sofortige Beschwerde einlegen.)
Direkt am Nachnamen entlarvt
Es ist ein juristisch hanebüchener Vorgang, der aber vor allem deshalb interessant ist, weil der zuständige Staatsanwalt einen persisch-arabischen Nachnamen trägt. Da wurde nämlich mein innerer Rassist hellwach und jubelte: F., ha, typisch, der fährt wohl eine eigene Agenda und versucht die Israel-Solidarität eines Kolumnisten mit den Mitteln des Strafrechts zu bändigen!
Nach ein paar Tagen voll nicht abgeschickter wütender E-Mails ging mir dann auf: Da hat sich ein ganz und gar rassistischer Gedanke in mein Hirn geschlichen. Ich folgere aus der Fremdartigkeit eines Nachnamens die vermeintlich pro-palästinensische Gesinnung des Beamten.
Dabei könnte Herr F. genauso gut einer iranischen Flüchtlingsfamilie entstammen, die vor den Mullahs nach Deutschland floh und den Israelis näher steht als der Hamas. Sein dusseliger Antrag resultiert vielleicht nicht aus politischer Antipathie und Zensurlust, sondern aus banaler Inkompetenz. Die Personaldecke ist schließlich dünn in der Justiz, da kann man nicht sonderlich wählerisch sein.
Anti-Rassismus ist ein Kartoffel-Job
Das Bändigen des inneren Rassisten ist für die weiße Mehrheitsbevölkerung, der ich angehöre, eine Daueraufgabe: Anders gesagt, es ist ein Kartoffel-Job. Es steckt halt in uns drin, das Andersartige erst einmal wenn schon nicht abzulehnen, so doch wenigstens sehr kritisch im Auge zu behalten.
Diese Aufgabe fällt total leicht, wenn die Andersartigen keinen Ärger machen. Der Pakistaner, der nachts durch den Herbstregen radelt, um Pad Thai in den dritten Stock zu schleppen, ist uns durchaus recht. Überhaupt, Asiaten, herrlich pflegeleicht und fleißig, die merkt man gar nicht, die hasst man nicht, sie sind sogar noch besser als Italiener, die immer die Nase rümpfen, wenn man im Restaurant "Gnotschi" bestellt.
Aber, ach, die anderen, die mit den Messern! Zwischen Januar 2023 und dem 11. Oktober 2024 liegen ein paar Hundert Tage, multipliziert man jeden davon mit 25 kommt man in etwa auf die Zahl der Messerattacken seit diesem Tag. Und überproportional oft sind die Täter nicht Deutsche, sondern Ausländer. Neuerdings kommen Brandsätze hinzu: In Krefeld hat ein Mann an drei Orten Brände gelegt. Erst hieß es, er sei Iraker, dann Iraner. Na, lirumlarum, einer von da unten jedenfalls!
Puh, zum Glück bin ich weiß!
Nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober haben sich viele Bevölkerungsgruppen geradezu um kollektive Verachtung beworben, darunter viele woke-linke Postkolonialisten. Aber eben auch manche Palästinenser und solche, die sich der palästinensischen Sache verschreiben, die Berliner Sonnenallee lässt grüßen. Das Spektrum reicht von Gewaltbereitschaft über das Rufen von Hamas-Slogans auf Demonstrationen - mit größter Perfidie zum Jahrestag der Gewaltorgie.
Im Deutschland des Jahres 2024 lässt sich der Rassismus kaum noch im Zaum halten. Nicht jeder Tabu-Bruch ist dabei rassistisch: Es ist durchaus legitim, wenn etwa Ex-SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert berichtet, es komme "aus muslimisch gelesenen Männergruppen häufiger zu einem homophoben Spruch, als man es sonst auf der Straße erlebt". Die aus dem woke-linken Spektrum betriebene Tabuisierung einer reinen Phänomenbeschreibung hat dazu geführt, dass so viele Deutsche die Problemzuständigkeit inzwischen allein bei der AfD vermuten. Es ist also durchaus gut, wenn sogar in der SPD Probleme unverblümter angesprochen werden als vor einigen Jahren.
Aber, man mache sich nichts vor, das hat Folgen. So ist ein bisschen "racial profiling" an der Grenze, also die Auswahl von Personenkontrollen nach Hautfarbe, auf einmal wieder keine gern bemäntelte Praxis, sondern super in Ordnung. Als ich kürzlich von Straßburg nach Offenburg fuhr, konnte ich das aus nächster Nähe begutachten. Da stieg eine Reihe Polizisten in den Zug ein und strebte zielstrebig, geradezu magnetisiert, auf eine Familie zu, die dem Anschein nach aus Indien oder so stammte. Hinter den Beamten liefen ZDF-Reporter herum, um den neuen Umgang abzufilmen. Puh, zum Glück bin ich weiß!
"Komische Figuren"
Die Enttabuisierung setzt sich in Stellungnahmen der CDU fort: Friedrich Merz vermutet im Interview mit "Bild", er wäre als Frau nicht in ein Taxi gestiegen, dessen Fahrer einen Kufiya trägt, also ein um den Kopf gewundenes Palästinenser-Tuch, weil er, Merz, als Mann ein "anderes Selbstbewusstsein" habe. Ich denke, ein Kufiya ist ein prima Anlass, um sich mit jemandem ein wenig wegen Hamas-Terror anzuschreien - aber davon auszugehen, dass ein Mann wegen dieser Kopfbedeckung über eine Kundin auf der Rückbank herfällt, ist kühn, um nicht zu sagen: rassistisch.
Es war nicht der einzige Tipp in Sachen Xenophobie: Merz sagte in Sachsen im Juli, Polizeibeamte wüssten ziemlich genau, in welchen Autos "illegale Migranten" oder "Schlepper" seien: nämlich "komische Autos" mit "komischen Figuren drin".
Komisch. Jens Spahn sagt dazu später beim Italiener (Markus Lanz), es sei Merz natürlich nicht um Hautfarben oder Ethnien gegangen. "Was denn sonst?", hakt Lanz nach. Eine richtige Antwort erhält der Südtiroler nicht. Vielleicht haben Drogendealer und Schlepper ja alle denselben, polizeibekannten Friseur?
Den Preis zahlen die anderen
Man täusche sich nicht: Den Weg, den Deutschland beim Kampf gegen Rassismus vorangegangen sein mag (vielleicht), tippeln wir gerade wieder zurück. Das kann man für eine zeitgeschichtliche Notwendigkeit und Folge einer vergurkten Innen- und Migrationspolitik halten. Aber: Diese Regression hat einen Preis, den bezahlen nicht wir aus der weißen Mehrheitsgesellschaft. Den bezahlen alle, die anders aussehen, ob Deutsche oder Ausländer.
Man sollte sich womöglich rüsten, so wie der Staat seine Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht gerade gegen das Einsickern von Rechtsextremen schützt. Es wird nur deutlich schwieriger sein. Rassismus ist hinterhältig, er schleicht sich auf leisen Sohlen ins Gehirn.