4 months ago

Vorauseilende Ablehnung: Innenministerkonferenz attackiert Überwachungsgesamtrechnung



Im Januar begannen Forschende mit der Überwachungsgesamtrechnung. Doch bevor die Ergebnisse vorliegen, machen die Innenminister:innen der Länder klar: Wir lehnen die Maßnahme aus dem Bundeskoalitionsvertrag ab – egal, was rauskommt.

Eine quietschbunte Taschenrechner-App zeigt "Error" an CC-BY 2.0 r. nial bradshaw

Seit Januar arbeitet das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht (MPI) an einer Überwachungsgesamtrechnung. Der Grund: SPD, Grüne und FDP hatten sich in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen zu untersuchen, wie etwa polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse sich auf Grundfreiheiten auswirken. Die Annahme: Grundrechtseingriffe können nicht allein isoliert betrachtet werden, es kommt auch auf die Gesamtauswirkung an. Das MPI bekam den Zuschlag.

Die Wissenschaftler:innen am MPI wollen „die Überwachungslast nach einem einheitlichen Maßstab messen“, sodass die Ergebnisse auch für künftige Gesetzesvorhaben nützlich und erweiterbar bleiben. Doch vor Abschluss des Projekts schießt die Innenministerkonferenz (IMK) gegen die „Trendumkehr hin zu einer grundrechtsorientierten und evidenzbasierten Innen- und Rechtspolitik“, die sich das Bundesinnenministerium einst vorgenommen hatte.

In einem Beschluss zu Tagesordnungspunkt 57, der Ende Juni auf dem halbjährlich stattfindenden Treffen der Innenminister und -senatoren der Länder getroffen wurde, heißt es: „Die IMK stellt fest, dass die Überwachungsgesamtrechnung keine geeignete Grundlage für eine sachgerechte und verantwortliche politische bzw. gesetzgeberische Entscheidung für die Gestaltung sicherheitsbehördlicher Befugnisse sein kann.“

Konkrete Ergebnisse, mit denen die IMK diesen Schluss untermauern könnte, liegen indes nicht vor. Ein erster Zwischenbericht des MPI ist ein halbes Jahr nach Start der Untersuchung fällig, also in Kürze. Das wird ein „interner Arbeitsbericht, der nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist“, so das MPI auf Anfrage.

Ablehnung, bevor das Ergebnis feststeht

Warum die Innenminister:innen bereits jetzt wissen, dass mit der Überwachungsgesamtrechnung nichts anzufangen sei? Der Beschluss des Potsdamer Treffens beschwört erneut eine Zeitenwende, die nicht nur in der Außenpolitik zu sehen sei. Das Land sei etwa mit terroristischen Bedrohungen, internetbasierter Kriminalität und Spionage konfrontiert.

Eine Überwachungsgesamtrechnung sei rechtlich „nicht geboten“ und fuße auf einem „eindimensionalen Freiheitsverständnis“. Damit meinen die Minister:innen, dass „ Freiheit und Sicherheit als Gegensätze“ betrachtet würden. Dabei bemühen sie dieses Bild der vermeintlichen Pole selbst gern. So sagte just Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen, der diesmal den IMK-Vorsitz übernahm, in seinem Statement: „Das beste Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit muss individuell abgewogen werden.“

Abgesehen davon greife die Überwachungsgesamtrechnung in föderale Strukturen ein, „wenn der Bundesgesetzgeber sich Überwachungsmaßnahmen der Länder vorhalten lassen müsste und umgekehrt“. Vereinfacht mit einem fiktiven Beispiel dargestellt: Wenn der Bund keine Vorratsdatenspeicherung einführen soll, weil die Überwachungslast der Telekommunikation durch Landesgesetze schon auf Anschlag steht, finden die Innenminister:innen das unangemessen.

Innenminister:innen wollen „Sicherheitsgesamtrechnung“

Statt einer Überwachungsgesamtrechnung fordern sie nun eine sogenannte Sicherheitsgesamtrechnung. Die solle unter anderem Schutzlücken analysieren und Ermittlungsbefugnisse auf Praxistauglichkeit abklopfen. Ob diese für jeweils einzelne Länder und Bund getrennt werden soll, um föderale Strukturen zu berücksichtigen? Dazu schweigt sich der Beschluss aus.

Teil der IMK ist neben den Ländervertreter:innen auch das Bundesinnenministerium (BMI) unter Nancy Faeser (SPD). Gemeinsam mit dem Bundesjustizministerium verantwortet das Haus die kritisierte Überwachungsgesamtrechnung. Daher gibt das BMI als Notiz zu Protokoll, dass diese „auch die positiven Auswirkungen der Sicherheitsgesetze auf Demokratie und Ausübung individueller Freiheit“ umfassen werde. Der Beschluss berücksichtige das nicht ausreichend. Man ist offenbar nicht ganz einverstanden mit der Ablehnung der Landesminister:innen.

Was das BMI in der Notiz nicht erwähnt: die in Kombination mit der Überwachungsgesamtrechnung geplante Freiheitskommission. Hier ist das Bundesjustizministerium federführend. Damit die Überwachungsgesamtrechnung nicht nur ein einmalig erstelltes Papier bleibt, soll diese Kommission Gesetzesvorhaben „auf eine grundrechtsfreundliche und verhältnismäßige Ausgestaltung der Eingriffsbefugnisse“ hin bewerten.

Kommt die Freiheitskommission noch?

Laut einem Bericht des Spiegel hatte Marco Buschmanns (FDP) Ressort dazu bereits im Herbst 2023 Eckpunkte ausgearbeitet. Doch es gab Unstimmigkeiten mit Nancy Faesers Innenministerium. Strittig ist etwa, welches Gewicht der Kommission zukommen könnte. Soll sie beraten, ohne dass ihre Einschätzung zwingend berücksichtigt werden muss? Oder darf es ein bisschen mehr Kontrolle sein, vielleicht sogar eine „formale Integration in den Gesetzgebungsprozess“?

Auf eine Anfrage von netzpolitik.org zum aktuellen Status der Freiheitskommission antwortet eine Sprecherin des BMJ, die Einrichtung des Gremiums sei „dem Bundesjustizminister ein wichtiges Anliegen“. Angaben zum Zeitplan könne man allerdings keine machen. Regierungsinterne Abstimmungen „dauern noch an“. Mit der selben Begründung hatte das Bundesjustizministerium schon Anfang des Jahres eine IFG-Anfrage abgelehnt.

Obwohl wie bei den Ergebnissen der Überwachungsgesamtrechnung also alle Details offen sind, sagt die IMK erneut im Voraus, was sie von einer Freiheitskommission hält: gar nichts. Sie lehnt das unabhängige Fachleutegremium „grundsätzlich“ ab, kritisiert den vermeintlich „einseitigen und einschränkenden Blickwinkel“ und verbittet sich jede weitere Einmischung in die Gesetzgebung.

Auf unsere Anfrage, ob das BMI diesem Teil des Beschlusses zustimmt, haben wir bisher keine Antwort bekommen. Aber auch so zeichnet sich ab: Ob die Überwachungsgesamtrechnung jemals als Grundlage für gesetzgeberisches Handeln genutzt und ob sie nach dieser Legislaturperiode jemals berücksichtigt wird, ist mehr als unsicher.


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