Ampel kaputt, Parteivorstand weg, Wahlniederlagen in Serie – auf ihrem Parteitag behaupten die Grünen trotzig, sie seien "neustartklar".
Die Grünen der 90er-Jahre würden die Grünen von heute als ihre Gegner bezeichnen, sagt der Mann, der gerne ihr Parteichef werden würde. Mathias Ilka, 59, trägt Mütze und einen grünen Kapuzenpulli mit der Mahnung, es gebe keinen Planeten B. Er könne nur zu gut verstehen, warum die Leute die Grünen "regelrecht Scheiße" fänden, sagt der Mann, der am Ende natürlich nicht Parteichef wird. "Lieber eine ehrliche Opposition als eine falsche, verlogene Regierungsbeteiligung", ruft er. "Sorry, dass ich hier heute nicht in den Jubelchor einstimmen kann."
Moment, Jubelchor? Bei den Grünen? Der Partei weht ein Gegenwind in Orkanstärke entgegen, ihr Vorstand hat nach einer Serie von Wahlniederlagen kürzlich hingeworfen. Ach so, und die Berliner Regierungskoalition ist gerade gescheitert. Es gäbe ausreichend gute Gründe für schlechte Laune bei den Grünen.
Das Gegenteil ist in der großen Kongresshalle von Wiesbaden zu beobachten. Sie behaupten per Schriftzug auf dem großen Bühnenbild sogar trotzig, sie seien "neustartklar". Das hat natürlich weniger mit Lage und Zustand der Partei zu tun und sehr viel mehr mit dem Zeitpunkt des Treffens. In nicht mal mehr 100 Tagen wird ein neuer Bundestag gewählt.
Grüne stellen den Zwist hintan
Die Grünen wollen die Gunst der Stunden nutzen, und sich als erste Partei für den Wahlkampf rüsten. Also jetzt bloß nicht so viel über Vergangenes streiten, sondern den Blick nach vorne richten, das ist das Motto der allermeisten Reden, die an diesem Wochenende gehalten werden. Es sei schließlich Aufgabe der Grünen, dem Land "Zukunft und Orientierung" zu geben, wie Robert Habeck meint.
Rally around the Flag, nennen die Amerikaner das, was hier passiert. Die Grünen versammeln sich um die Fahne, rücken zusammen, stellen zumindest für den Moment den gröbsten innerparteilichen Zwist hintan. Mehr als 7000 Menschen seien seit dem Bruch der Ampel in die Partei eingetreten. Ab Sonntag wird Habeck die grüne Fahne tragen, als "Kandidat für die Menschen im Land", wie es noch verdruckst im Antragspapier heißt. Doch am Tag davor wählen sich die Grünen zunächst eine neue Parteispitze.
IV Bütikofer Grüne Parteitag 13.45
"Puh", sagt Felix Banaszak als er ans Rednerpult tritt. Für einen Moment wirkt es so, als würde dem Duisburger Bundestagsabgeordneten erst in diesem Moment bewusst, auf was für ein Abenteuer er sich da eingelassen hat. Banaszak spricht er über Angst, er zitiert den Musiker Rio Reiser, der einst sang, wir hätten "nichts zu verlieren, außer unserer Angst."
Es ist ein Satz, den die grünen Kabinettsmitglieder in dieser Absolutheit wohl nicht gelten lassen würden, aber das ficht ihn nicht an. Angst hätte weite Teile Gesellschaft erfasst, sagt Banaszak. Angst vor Putin, vor Trump, vor der nächsten Gasrechnung, dem Heimweg im Dunkeln. Es nütze nichts, dieser Angst mit Statistiken und Argumenten zu begegnen, es brauche Empathie, Zuhören "und auch mal in den Arm nehmen". Mit 92 Prozent wählen ihn die Delegierten am Ende zu ihrem neuen Parteichef.
Sie verzeihen Franziska Brantner sogar das "Make Green great again" am Ende ihrer Bewerbungsrede. Denn immerhin sagt die Frau vom Realo-Flügel auch, das Leben müsse gerecht und sozial sein. "Es gibt nicht hier die Klimafrage und dort die soziale Frage." Die 78 Prozent, mit denen sie zur Co-Chefin gewählt wird, nennt man auf Parteitagen für gewöhnlich ein ehrliches Ergebnis. Gemessen an der Unruhe, die es in Teilen der Grünen zuvor gegeben hat, ist es sogar ein erstaunlich gutes. Dass ausgerechnet eine Vertraute Habecks, der seiner Partei als Vizekanzler einiges zugemutet hat, die Partei führen soll, kann nicht bei allen gut an. Brantner ist bislang Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium.
Ampel-Aus sorgt für Erleichterung
Da reden also die beiden Neuen – und das soll jetzt die Wende bringen? Ende September noch hat der nun vorherige Parteichef Omid Nouripour der Partei die "tiefste Krise" seit einer Dekade bescheinigt, und ist deshalb mit Ricarda Lang zurückgetreten. Die Probleme haben sich seither nicht magisch aufgelöst: Dass den Grünen Ablehnung bis hin zu Hass entgegenschlägt, dass die Akzeptanz für Klimaschutz-Maßnahmen stark gelitten hat, dass die Partei in Ostdeutschland quasi nicht mehr vorkommt. Doch darum geht es in Wiesbaden höchstens am Rande.
Eine naheliegende Erklärung liefert Habeck selbst: "Wir wären vielleicht anders in diesen Parteitag gestartet, wenn nicht die Ampel zerbrochen wäre. Möglicherweise hätten wir uns Debatten geliefert über rote Linien", sagt Habeck, darüber, was man mit der FDP oder mit Christian Lindner in der Ampel keinesfalls machen dürfe. "Aber es gibt keine FDP und keinen Christian Lindner in der Regierung mehr", ruft Habeck und bringt den Saal zum Jubeln.
Es ist dieselbe Erleichterung, wie sie derzeit in allen bisherigen Ampelparteien anzutreffen ist. Die ungeliebte Koalition, der ewige Zank, endlich ist es vorbei! Viele bei den Grünen sehen es als Vorteil, nun befreit in den Wahlkampf starten zu können, so steht ihr Spitzenmann nicht dauernd in dem Dilemma zeitgleich manch faulen Kompromisse verteidigen zu müssen.
Nur was genau man im Hause Grün nun anders, besser machen will, wie der Weg aus der Misere aussehen könnte – die besten Antworten darauf liefert in Wiesbaden ausgerechnet die Frau, die hier tränenreich verabschiedet wird. Sie wolle nie wieder am Abend einer Wahlniederlage hören, man müsse die Politik nur besser erklären, sagt Ricarda Lang, die genau das oft genug tun musste. "Was ist für ein paternalistischer Scheiß", ruft sie. Die Grünen müssten die Politik nicht besser erklären, man müsse sie besser machen. "Wir sind nicht die Staubsauger-Vertreter der Demokratie!"
Warum sind Lang und Nouripour zurückgetreten?
Die Begeisterung im Saal ist darüber so groß, dass man sich unweigerlich fragt: Warum sind Lang und Nouripour nochmal zurückgetreten? Vielleicht sieht man klarer, wenn der Druck nachlässt. Vielleicht spricht es sich einfach nur freier, wenn man abtritt. Lang jedenfalls nutzt ihren vorerst letzten großen Auftritt, um die eigenen Leute zu ermahnen: "Wir Grüne können uns das mit der Mitte in die Haare schmieren, solange wir als Elitenprojekt wahrgenommen werden." Darum müsse man beim Thema Klimaschutz sehr viel mehr auch über die Kosten reden, darüber, wer davon profitiere, wer zahlen müsse – und was man für die "im Köcher habe", die verlieren.
Es ist der Stachel namens Heizungsgesetz, der bis heute so tief im grünen Fleisch sitzt. Immerhin sind die Grünen inzwischen bereit, aus dem Schmerz zu lernen. Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit soll ab sofort nur noch zusammen gedacht werden. Oder wie es die grüne Außenministerin Annalena Baerbock formulierte: "Dieses Gefühl, wir können uns das Leben nicht mehr leisten, das ist die Herausforderung unserer Zeit."
Was früher im Kino oder Schwimmbad gegolten habe, dass manche Kinder sagten, sie könnten da nicht mitkommen – "das gilt heute am Dönerstand", sagt Baerbock. Das sei die Herausforderung der Zeit, die man gemeinsam angehen müsse. Baerbock spricht von der Mietpreisbremse, dem Mindestlohn, vom Deutschland-Ticket, das man nicht teurer machen dürfe. "Sich diesen Themen intensiver zu stellen, heißt nicht, Kernthemen aufzugeben", sagt Baerbock.
"Warum stricken wir seit 40 Jahren Wollpullis und Schals?"
Weder die Kernthemen noch die Traditionen, was das betrifft, sind die Grünen schon beinahe konservativ. Es ist die neue Parteichefin, die am Ende ihrer Rede an eine sehr spezielle grüne Tradition erinnert. "Warum stricken wir seit 40 Jahren Wollpullis und Schals?", fragt Franziska Brantner. "Die Antwort heißt: Winterwahlkampf."
Aber wie es so ist mit Traditionen: Sie sind überall in Gefahr. Als am Morgen eine grüne Delegierte das Wiesbadener Kongresszentrum betritt und zur Kontrolle ihren Rucksack öffnet, entdeckt die Wachfrau ein Wollknäuel. Es ist gespickt mit einem halben Dutzend Stricknadeln.
"Die dürfen sie leider nicht mit reinnehmen", sagt Wachfrau. "Sicherheitsgründe."
Die Grüne schnappt nach Luft.
Die Wachfrau bleibt hart. "Theoretisch könnten Sie mir damit ja ein Auge ausstechen."