Wieso wurde Issa al H. nicht abgeschoben? Nach dem Solingen-Angriff sind viele Fragen offen. Ausgerechnet die zuständige grüne Fluchtministerin Josefine Paul spielt eine unglückliche Rolle.
Als Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) am Montagmittag in Solingen nach dem tödlichen Messerangriff vor die Presse trat, war er nicht alleine. Neben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der vor dem Ministerpräsidenten sprach, stellten sich auch Wüsts Innenminister Herbert Reul (CDU) und Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach vor die Kameras und Mikrofone. Zuvor hatten sich die Herren intern beraten, nun wandten Sie sich gemeinsam an die Öffentlichkeit. Und über allem schwebte die Frage, wie diese Tat passieren konnte.
Ausgerechnet von einer Frau, die Antworten liefern könnte, fehlte jede Spur: von Josefine Paul (Grüne), als Familien- und Fluchtministerin unter Wüst zuständig für Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen. Und damit auch für jene von Issa al H., die im Jahr 2023 scheiterte.
Wo blieb Paul?
Erst am späten Montagnachmittag meldete sich die Ministerin erstmals zu Wort – mit einem schriftlichen Statement: Es sei nun wichtig, "Antworten auf die Frage zu finden, wie diese Tat geschehen konnte und welche Maßnahmen aus ihr folgen", hieß es darin. Ihr Ministerium befinde sich "dazu im akuten Aufklärungsprozess".
Am Dienstag, vier Tage nach dem Attentat, trat Paul schließlich auch persönlich vor die Öffentlichkeit. Und brachte zumindest etwas Licht ins Dunkel um die Frage, wieso der mutmaßliche Attentäter Issa al H. überhaupt noch in Deutschland war. Schließlich hätte der Syrer eigentlich nach Bulgarien abgeschoben werden sollen, weil das Land nach EU-Recht für sein Asylverfahren zuständig war.
Paul erklärte: Kurz bevor im Juni 2023 die Bielefelder Ausländerbehörde zu al H.s Abschiebung aufkreuzte, habe er seine Flüchtlingsunterkunft in Paderborn verlassen. Später sei er zurückgekehrt, die Unterkunft versäumte allerdings, dies der Behörde zu melden.
Mehr Fragen als Antworten
Außerdem habe es die zuständige Ausländerbehörde versäumt, einen Rückführungsflug für al H. nach Bulgarien anzumelden. Danach wäre ein Flug nach Sofia erst nach der sogenannten Überstellungsfrist möglich gewesen. Hintergrund ist wieder das EU-Recht, wonach Deutschland sechs Monate Zeit für al H.s Überstellung hatte. Im August 2023 war diese Frist abgelaufen, seitdem war Deutschland zuständig.
Später am Abend erklärte Paul im Interview mit dem WDR, Dublin-Überstellungen seien "extrem kompliziert", Bulgarien mache es mit seinen geringen Rückflugangeboten schwer. Man müsse nun dafür sorgen, dass europäisches Recht "auch wirklich durchgesetzt wird". Aber: "Wir haben aus Nordrhein-Westfalen heraus keine Möglichkeiten, das selber zu beeinflussen."
Eine Ministerin erklärt sich selbst für machtlos. Sieht so Überforderung aus? Kapitulation?
Die unglückliche Kommunikationsstrategie der Ministerin sorgt auch in ihrer Landesregierung für Irritationen. Die Mannschaft von Ministerpräsident Wüst sieht in dem Fall nicht gut aus. Ausgerechnet Wüsts Regierung, die seit Monaten versucht, die Bundesregierung zu mehr Härte in der Asylpolitik zu drängen, muss im Fall von Solingen Versäumnisse einräumen. Die zuständige Ministerin schweigt zunächst, wagt sich erst nach Tagen schrittweise an die Öffentlichkeit.
Sicher, die Aufarbeitung des Falls ist komplex. Abschiebungen sind aufwendige Verfahren. Sie beschäftigen Kommunal- und Landesbeamte, Ausländerbehörden, Polizei, aber auch das Bundesamt für Migration, das über Asylverfahren entscheidet.
Aber wie kann es sein, dass Paul erst tagelang überhaupt nichts sagte, nur um dann die Verantwortung auf örtliche Behörden, Bulgarien und das EU-Recht abzuwälzen?
Pauls Aussagen werfen eher mehr Fragen auf, als sie beantworten: Warum suchte die Ausländerbehörde al H. erst im Juni 2023 auf, obwohl seit Februar klar war, dass er kein Bleiberecht hat? Haben die Behörden weiter nach ihm gesucht, nachdem sie ihn in der Flüchtlingsunterkunft nicht angetroffen haben? Wieso kam H. nicht in Abschiebehaft? Und wie genau will Paul solche Versäumnisse künftig verhindern?
Die Ministerin steht unter Druck, auch von der Landesregierung selbst. Ministerpräsident Wüst sagte im Interview mit dem stern, er habe "offene Fragen". Angesprochen auf Paul erklärte er: "Wenn es Fehler gab, sollten diese auch klar benannt werden." Nach Rückendeckung klang das nicht.
Innenminister Reul erklärte derweil, nicht für für Abschiebungen zuständig zu sein – und schob damit Paul den Ball zu. Formal stimmt das. Seit 2017 ist in Nordrhein-Westfalen das Familienministerium als Fluchtministerium für Abschiebungen zuständig. Allerdings verantwortet Reuls Haus die Polizei, die bei Abschiebungen eng mit dem Fluchtministerium zusammenarbeitet.
SPD kritisiert "NRW-Sonderweg" – FDP fordert Untersuchungsausschuss zu Solingen
Kritik an dieser Aufgabenteilung kam von der SPD-Landtagsfraktion. Das Land müsse "seinen grundsätzlichen Umgang mit Sicherheit und Migration hinterfragen", sagte der Fraktionsvorsitzende Jochen Ott. "In allen anderen Bundesländern liegt die Verantwortung für Migration und Abschiebung beim Innenministerium. Nur NRW wählt einen Sonderweg. Wir sehen aber, dass Migration und innere Sicherheit eng miteinander verbunden sind."
Für den Vorsitzenden der FDP-Landtagsfraktion, Henning Höne, deutet der Fall Solingen "auf gravierende Mängel im Zusammenspiel unserer Behörden hin, die an frühere Fälle erinnern". Höne forderte einen Untersuchungsausschuss für die Vorgänge.
Mit direkter Kritik an Fluchtministerin Paul hält sich die Opposition bislang zurück. Doch wie lange noch? Für Donnerstag ist eine gemeinsame Sondersitzung von Innen- und Integrationsausschuss geplant, zu der Reul und Paul erwartet werden. Außerdem will die Landesregierung eine Sondersitzung des Landtages beantragen.
Dann wird Josefine Paul weitere Antworten liefern müssen.