Thüringen und Sachsen gefährdet: Wie die AfD die Demokratie aushebeln könnte

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Die Umfragen zeigen: Die AfD dürfte ihren Einfluss bei den anstehenden Wahlen in Sachsen und Thüringen deutlich ausbauen. Für demokratische Institutionen ist das brandgefährlich, wie eine Forschungsgruppe verdeutlicht. Denn der Rechtsstaat sei nicht so robust, wie viele denken.

Sollten sich die aktuellen Umfragen bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen realisieren, dürften im blauen Lager die Sektkorken knallen. Demnach würde die AfD in Erfurt mit deutlichem Abstand stärkste Kraft, kommt sie derzeit auf rund 30 Prozent der Stimmen. Kaum anders sieht es in Dresden aus. Laut RTL/ntv-Trendbarometer vom Freitag vor der Wahl liegt die sächsische AfD mit 31 Prozent zwei Punkte hinter der CDU. Andere Demoskopen sehen die rechtsextreme Partei sogar in Führung.

Zweifellos würde ein so starkes AfD-Ergebnis einen enormen Rechtsruck in Thüringen und Sachsen bedeuten. Doch nicht nur das: Ein Zugewinn an Stimmen für die AfD heißt auch, dass eine Partei an Einfluss gewinnt, die sich in Teilen schon lange von der Verfassung verabschiedet hat. Das rechtsextreme Treffen im vergangenen Dezember in Potsdam, bei dem über die "Remigration" von Millionen Menschen debattiert wurde und bei dem auch einflussreiche AfD-Funktionäre anwesend waren, ist dabei nur ein Beispiel von vielen.

Die Landesverbände der Partei stuft der Verfassungsschutz sowohl in Thüringen als auch in Sachsen als gesichert rechtsextremistisch ein. Der AfD gehe es um "eine grundsätzliche Systemveränderung", fasste der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, die Gefahren zusammen. Kurzum: Ein Wahlerfolg der AfD in Thüringen und Sachsen bedeutet für die Demokratien beider Länder ein immenses Risiko.

Machtposition Landtagspräsidentschaft

Nun sieht es in keinem der Länder nach einer absoluten Mehrheit für die Partei aus. Zudem verweigern alle derzeit in den Landtagen vertretenen Fraktionen den Rechten eine gemeinsame Regierungsbildung. Damit deutet vieles auf einen gestärkten Oppositionsposten der AfD in Erfurt und Dresden hin. Allerdings bedeute dies keineswegs, dass die AfD keinen Schaden an demokratischen Institutionen anrichten könne, betont Marie Müller-Elmau im Gespräch mit ntv.de.

Die Juristin ist Teil des "Thüringen-Projekts" unter Leitung des Verfassungsrechtlers Maximilian Steinbeis. Monatelang haben sich die Forschenden am Beispiel von Thüringen mit der Frage beschäftigt, was auf den Rechtsstaat zukommen würde, wenn eine autoritär-populistische Partei wie die AfD Machtmittel in die Hand bekäme. Das Ergebnis: Selbst ohne Regierungsbeteiligung gäbe es für die Partei etliche Stellschrauben, demokratische Vorgänge im Land im Sinne ihrer eigenen Interessen zu behindern.

So stünden die Chancen der AfD als stärkste Kraft nach den Wahlen etwa nicht schlecht, den neuen Landtagspräsidenten zu stellen. Grundsätzlich leitet der Landtagspräsident die Sitzungen des Parlaments. Also auch jene, in der der Ministerpräsident gewählt wird. Nun ist Thüringen bekannt dafür, dass diese Wahl nicht reibungslos verläuft. Bereits 2020 brauchte es drei Wahlgänge. Da allerdings lauert die Gefahr: Im dritten Wahlgang gewinnt laut Landesverfassung, wer "die meisten" Stimmen hat. Ob es also eine absolute oder nur eine einfache Mehrheit braucht, ist strittig. Wer im Ernstfall entscheidet? Der - möglicherweise von der AfD gestellte - Landtagspräsident.

Angriffspunkt Landesverfassungsgericht

Vor diesem Hintergrund konstruiert Steinbeis folgendes Szenario: Wenn Thüringens AfD-Chef Björn Höcke im dritten Wahlgang antritt und sich Linke und CDU nicht auf einen Gegenkandidaten einigen konnten, dann könnte der Landtagspräsident feststellen, dass Höcke allein mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.

Doch es ist nicht nur der Posten des Landtagspräsidenten. Kommt die AfD auf ein Drittel der Mandate, würde sich ihr Machtfaktor bereits enorm vergrößern. Denn mit dieser Sperrminorität könnte sie die Zweidrittelmehrheit im Landtag verhindern. Wichtige demokratische Prozesse könnten reihenweise blockiert werden, etwa Verfassungsänderungen - oder die Abberufung des Landtagspräsidenten. Ein Teufelskreis. Je mehr Stimmen auf Parteien entfallen, die nicht in den Landtag einziehen, desto weniger Stimmenanteil braucht die AfD für das Drittel im Parlament. In Sachsen könnten ihr hierfür weniger als 30 Prozent reichen, sollten zugleich Linke, SPD und Grüne rausfliegen.

Ein naheliegender Angriffspunkt für die Populisten wäre vor diesem Hintergrund vor allem das Landesverfassungsgericht. Das "Thüringen-Projekt" skizziert es gar als eine Art offene Flanke. Denn: Verfassungsrichterinnen und -richter werden mit zwei Dritteln der Stimmen im Landtag gewählt. Die AfD könnte diese Ernennung mit einer "Sperrminorität" also verhindern. Damit wäre die Arbeitsfähigkeit jenes Gerichts, das die Einhaltung der Grundrechte durch den Staat sicherstellen soll, nicht mehr sichergestellt.

Chaos durch Sperrminorität

Dass die AfD solchen Blockaden nicht abgeneigt ist, zeigt ein Fall aus dem Jahr 2017. Der Thüringer Landesverfassung zufolge muss jede Landtagsfraktion mit mindestens einer Person im Richterwahlausschuss vertreten sein. Damals verweigerten die Thüringer Rechten zwischenzeitlich die Benennung ihres Ausschussmitglieds. Das Ziel dabei sei es gewesen, den Ausschuss lahmzulegen, schreiben Mitarbeiter des "Thüringen-Projektes" im Anwaltsblatt.

Die Blockade solcher für die Demokratie essentieller Entscheidungen hätte vor allem eins zur Folge: Chaos in der Landesregierung. So werde wiederum das Narrativ bedient, "die Regierung bekommt nichts auf die Reihe, das System versagt und die AfD ist die einzige Partei, die das Volk ordentlich führen kann", sagt Hannah Beck, die ebenfalls Teil des Projektes ist, im Gespräch mit ntv.de. "Und das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Populisten." Das Misstrauen in die Regierung wächst weiter, die AfD profitiert - und kann die Zustimmung für sich weiter ausbauen.

Die Beispiele zeigen: Schon als gestärkte Opposition gäbe es für die AfD effektive Hebel, an den Säulen der Demokratie zu kratzen. Zwar scheint diese Konstellation derzeit am wahrscheinlichsten - in Stein gemeißelt ist der Oppositionsposten der AfD allerdings nicht. Möglich wäre etwa, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das ebenfalls zweistellige Umfragewerte erreicht, der AfD zur Regierungsbeteiligung verhilft - auch wenn Wagenkecht das mit Blick auf Thüringen bei ntv bestritt.

Demokratieabbau in einer Legislaturperiode

Ein Blick nach Polen und Ungarn zeigt, was eine Regierungsbeteiligung bedeuten könnte. Auf die Regierungsübernahme einer autoritär-populistischen Partei folgt der Umbau demokratischer Spielregeln. Stück für Stück werden Gewaltenteilung und Opposition geschwächt - oder ausgeschaltet.

Dass dies - auf Bundesebene - auch in Deutschland möglich wäre, hat der Verfassungsrechtler Steinbeis bereits vor Jahren skizziert. Dem Gründer des Verfassungsblogs zufolge ist der Rechtsstaat nicht so robust, wie viele annehmen. Wenn Antidemokraten die Mehrheit im Bundestag hätten, schreibt Steinbeis, bräuchte es gerade einmal eine Legislaturperiode,"um das Grundgesetz aus den Angeln zu heben". Ein erster Angriffspunkt sei dabei das Bundesverfassungsgericht, beschreibt Steinbeis. Es sei besonders verwundbar. Wenn es als essentielle Kontrollinstanz schließlich versagt, stehe der autoritär-populistischen Partei der Weg frei.

Die Ergebnisse des "Thüringen-Projektes" machen nun deutlich, dass ähnliche Gefahren auch auf Landesebene lauern. Wie das Grundgesetz ist auch die Landesverfassung nicht vor Machtmissbrauch durch eine autoritär-populistische Partei gefeit. Um sich unliebsame Kontrollen vom Hals zu halten, würde wahrscheinlich auch auf Landesebene schnell die Justiz in den Fokus der Rechten rücken, erklärt Beck. Dies habe man etwa in Polen beobachten können. Dort hatte die PiS-Regierung das Rentenalter für Richter herabgesenkt, um möglichst viele Stellen aus den eigenen Reihen oder mit Sympathisanten zu besetzen.

Personal auf Linie bringen

Ein besonders wichtiger Hebel sei zudem der Personalaustausch, betonen Müller-Elmau und Beck. Sollte die AfD Regierungsverantwortung und damit Ministerposten übernehmen, kann sie auch die Posten der politischen Beamten neu besetzen - und zwar ohne Angabe von Gründen. Dass diese Vertrauenspersonen der Regierung nach einem Regierungswechsel ersetzt werden, ist zwar nicht ungewöhnlich. Allerdings könnten Antidemokraten den Posten missbrauchen.

Ein Beispiel: Würde der Innenminister vorgeben, schärfer gegen Aktivistengruppen oder gar oppositionelle Bündnisse vorzugehen, könnte der Polizeipräsident den Fokus auf diese Aufgabe legen. Etwa indem er Personal oder Gelder in die entsprechende Abteilung verschiebt. Ähnliches wäre beim Verfassungsschutz denkbar. "Dann werden eben keine Nazis mehr beobachtet, sondern verstärkt die Linken", führt Beck als Beispiel an. Höcke ist sich des Machtfaktors durchaus bewusst. In seinen Plänen für eine AfD-geführte Regierung steht die Abberufung des Verfassungsschutzpräsidenten ganz oben.

Nun haben Bund und Länder im weltweiten Vergleich moderne Verfassungen, die als eine Art Demokratie-Sicherung fungieren und gerade Angriffen auf demokratische Institutionen standhalten soll. Grundsätze wie das Diskriminierungsverbot, die Verhältnismäßigkeit von Justiz und Verwaltung und die Gewaltenteilung sind auch in den Landesverfassungen fest verankert. Sollten rechte Minister oder Beamte diese Prinzipien des Rechtsstaates auch nur ankratzen, dürfte der verfassungsrechtliche Alarm groß sein.

Die Krux im Sicherungssystem

Die Krux im Sicherungssystem liege darin, erklärt Müller-Elmau, dass es den autoritär-populistischen Parteien heutzutage gar nicht darum gehe, der Verfassung mit der Brechstange zu begegnen. Vielmehr soll sie für ihre Zwecke eingesetzt werden. "Die Demokratie wird von innen ausgehöhlt, ohne dass die Partei unbedingt gegen Gesetze verstoßen muss", sagt Müller-Elmau. Ein Beispiel dafür sei Ungarn. Dort wurde das autoritäre Regime der Fidesz-Partei gerade mithilfe der demokratischen Institutionen errichtet. Das Motto lautet also: biegen statt brechen, schleichen statt Fackelmarsch.

Möglich sei das vor allem, "weil Verfassung und Gesetze ihrem Wesen nach abstrakt sind", sagt Müller-Elmau. Denn auch das gehört zum Rechtsstaat: Das Recht regelt keine Einzelfälle. Es kann nicht allen Problemen, die etwa durch eine Partei verursacht werden könnten, vorwirken. "Wir können weder eine wasserdichte Verfassung noch eine lex AfD schaffen", erklärt Beck. "Dann würden wir ja selbst in den Autoritarismus abrutschen." Das heißt: Das Gesetz muss ausgelegt werden - es bietet Spielraum für Interpretation und unterschiedliche Meinungen.

Das könnte rechten Richtern oder Verwaltungsbeamten zugutekommen. Denn ihnen im Nachhinein zu beweisen, dass eine Entscheidung - möglicherweise über die Aufenthaltserlaubnis eines Geflüchteten - nicht mehr im Rahmen der oft weiten Gesetzesgrenzen lag, dürfte oft schwer werden.

Beck weist zudem auf die Einstellungsverfahren von Behörden hin, die sich eine autoritär-populistische Partei zunutze machen könnte. Zwar müssen die Stellen ausgeschrieben und der beste Kandidat gewählt werden. "Allerdings lassen sich die Ausschreibungen ja verändern, sodass präferierte Gruppen, vielleicht eigene Leute, besser auf die Stellen passen." So könnte etwa die Landtagsverwaltung recht problemlos auf Linie gebracht werden.

Einfallstore in die Verfassung bleiben

Ein weiterer Hebel für eine autoritär-populistische Partei könnte der Bildungsbereich sein. Auch hier ist vergleichsweise wenig gesetzlich geregelt. "Damit wäre es zum Beispiel möglich, Fächer wie den Sexualkundeunterricht zu streichen oder den Politikunterricht auf Inhalte der siebten Klasse zu beschränken", sagt Müller-Elmau. Auch Lehrinhalte wie der Besuch eines Konzentrationslagers könnten gekappt werden - alles, ohne dass die Behörden gegen irgendein Gesetz verstoßen würden. Schließlich dürfe man auch den Haushalt nicht vergessen. "Die autoritär-populistische Partei könnte zum Beispiel problemlos veranlassen, dass Projekte zur Demokratieförderung kein Geld mehr bekommen." Auch diesen Schritt kündigte Höcke bereits an.

Die Beispiele zeigen: Es gibt viele kleine Stellschrauben, mit denen eine autoritär-populistische Partei ihre Ideologie durchsetzen und ihre Macht verfestigen könnte. Rechtsbrüche sind in den meisten Fällen gar nicht nötig. Und selbst wenn, greifen Sicherheitsmechanismen nicht automatisch, wendet Müller-Elmau ein. Denn die Verfassung ist kein automatischer Schutzschild. Vielmehr muss irgendjemand gegen das Gesetz oder die Handlung der Partei klagen. "Dafür braucht es natürlich das richtige Klima und finanzielle Ressourcen", mahnt Müller-Elmau.

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Und selbst, wenn das der Fall ist, kann sich das Verfahren über Jahre ziehen. Man schaue nur auf die Verfahren wegen Wahlbeeinflussung gegen Ex-Präsident Donald Trump in den USA. "In der Zwischenzeit können Tatsachen geschaffen werden." Beck fasst die Gefahr so zusammen: "Wenn die AfD es tatsächlich in die nächste Landesregierung schafft, wäre der Rechtsstaat gefährdet."

In ihrem Fazit machen die Autorinnen und Autoren des "Thüringen-Projektes" deutlich, dass sich nicht jede autoritär-populistische Strategie mit Verfassungs- oder Gesetzesänderungen entschärfen lasse. Allerdings gebe es "Einfallstore" in die Landesverfassung, die es autoritär-populistischen Parteien leichter mache, ihre Strategien umzusetzen. "Es wäre fahrlässig, diese Einfallstore nicht zu schließen", heißt es. Schon vor Monaten haben die Juristen dafür konkrete Handlungsempfehlungen ausgesprochen. Umgesetzt wurde allerdings keine von ihnen. Während also am Sonntag im blauen Lager die Korken knallen dürften, steht die Landesverfassung ohne Schutzmauer da.

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