Die Grünen wollen über ihr Wahlprogramm reden, doch stattdessen rede alle über Friedrich Merz. Beim Parteitag geht das Programm zwar glatt über die Bühne, doch auch Kanzlerkandidat Habeck arbeitet sich vor allem am CDU-Chef ab - und hofft auf verschreckte Unionswähler.
Der prominenteste Gast des Grünen-Parteitags war weder eingeladen noch vor Ort. Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz weilte am Sonntag zum Wahlkampf im heimischen Sauerland, tauchte zugleich aber in beinahe jeder Rede und Wortmeldung bei der Grünen-Veranstaltung auf dem Berliner Messegelände auf. Eigentlich wollte die Partei von Kanzlerkandidat Robert Habeck nur ihr Wahlprogramm verabschieden. Das gelang nicht nur einstimmig, sondern auch deutlich schneller, als es die Grünen-Spitze in ihrem Parteitagszeitplan vorhergesehen hatte. Doch die von Merz angekündigten Bundestagsanträge für eine Kehrtwende in der Asylpolitik drückten der Versammlung der mehr als 2400 Delegierten und Gästen einen ganz eigenen Stempel auf.
So warnte Habeck in seiner Rede die Union davor, SPD und Grüne erpressen zu wollen. "'Entweder stimmt ihr zu, oder ich stimme mit Rechtsradikalen' - Das ist nicht Mitte. Das ist Ideologie!" Die Union könne im Bundestag mit FDP, BSW und AfD auf eine Mehrheit kommen, sagte Habeck während des Parteitags zu ntv. Das aber sei "nicht mehr die Union, die wir kennen, die behauptet, für die Mitte in Deutschland zu stehen. Das ist dann vorbei." Für Habeck ist diese Entwicklung nicht ohne Reiz: Sollten CDU und CSU tatsächlich in einer so wichtigen Frage eine Mehrheit mit AfD-Stimmen herbeiführen, könnte das auch politisch mittige Unionswähler verschrecken. Um diese mittigen Wähler wirbt Habeck ohnehin - und hofft nach den leichten Umfrage-Zugewinnen der vergangenen Wochen auf weiteres Wachstum.
Habeck fordert schnelle Kurskorrektur
Die Union will in der kommenden Woche im Bundestag über eine Reihe nicht verbindlicher Forderungen abstimmen lassen. Es ist Merz' Reaktion auf den brutalen Mordanschlag eines ausreisepflichtigen, offenbar psychisch kranken Afghanen auf eine Kindergartengruppe in Aschaffenburg. Merz' Vorschläge umfassen unter anderem die Zurückweisung praktisch aller Asylsuchender an den deutschen Außengrenzen sowie eine massive Ausweitung von Haft- und Arrestmaßnahmen. Unionskanzlerkandidat Merz ist dabei offenbar bereit, es auf eine Mehrheit mit den Stimmen von BSW und AfD ankommen zu lassen. Dem Antrag ist zugleich eine Präambel vorangestellt, in der sich die Union scharf von der AfD abgrenzt.
"Nichts daran ist harmlos", kommentierte Habeck. Wenn die Union nun Mehrheiten mit Stimmen der AfD herbeiführe, wäre auch die Wahl des Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich "völlig okay gewesen". Der FDP-Politiker hatte 2020 im Thüringer Landtag die Stimmen von AfD, FDP und Union bekommen. Habeck wollte in seiner Rede aber auch nicht ausschließen, dass hinter Merz' Vorstoß "strategische Unachtsamkeit, impulsives Rausplappern" stecke. "Wenn man das korrigieren will, dann aber schnell."
Doppeltes Dilemma
Die Grünen sehen Merz und die Unionsspitze in einem Dilemma, in das Merz sich und seine Partei manövriert habe. Verweigerten SPD und Grüne ihre Zustimmung zu Vorschlägen, die sie für inhaltlich falsch und für unvereinbar mit dem Grundgesetz und EU-Recht halten, müsste es Merz auf eine Zustimmung von AfD und BSW ankommen lassen. Schließlich hatte er gesagt, ihm sei egal, wer seinen Weg mitgehe. Dass die AfD dem Unionsantrag zustimmt, ist ungeachtet der Präambel des Antrags nicht ausgeschlossen.
Doch auch die Grünen finden sich in einem Dilemma wieder: Seit Wochen verweisen sie darauf, dass die demokratischen Parteien gesprächs- und koalitionsfähig bleiben müssten, damit in Deutschland nicht dasselbe Szenario passiert wie in Österreich. Dort könnte die rechtsradikale FPÖ die nächste Regierung anführen, nachdem sich Sozialdemokraten und Konservative nicht auf eine Regierungskoalition verständigen konnten. Die Grünen verzichten vorerst auf Ultimaten an die Union, zumal diese nach dem jetzigen Stand der Umfragen ihre einzige Option auf eine erneute Regierungsbeteiligung sind.
Eine rote Linie zieht Habeck auf dem Parteitag also nicht, auch wenn er im Interview mit ntv einräumt, die Frage danach sei "richtig gestellt". Die Parteivorsitzende Franziska Brantner sagte, ihre Partei sei "konsterniert" über das Vorgehen der CDU. Ihr Co-Vorsitzender Felix Banaszak sagte zu ntv: "Wenn Herr Merz weiter Mehrheiten mit der AfD in Kauf nimmt, um eins zu eins seine Positionen durchzudrücken, dann wird er dafür niemanden finden." Und: "Ich sage es sehr deutlich: Wir wollen keine Verhältnisse wie in Österreich." Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann befand, Merz drohe, der "Wertekompass zu entgleiten".
Kein Termin, keine Verhandlungen
Etwas orientierungslos sind aber auch die Grünen: Nachdem die insgesamt zwei CDU-Anträge am Samstagabend bei den rot-grünen Fraktionsspitzen eingegangen waren, mit der Bitte um Zustimmung, hat es dem Vernehmen nach kein weiteres Gesprächsangebot von Merz und seiner Fraktion gegeben. Demnach ist völlig unklar, wann die Union in der kommenden Woche ihre Anträge auf der Tagesordnung sehen möchte und ob es vielleicht doch Raum für Kompromisse gibt.
Zugleich handelt es sich bei den Anträgen eben nicht um Gesetzestexte. Die unbefristete Verlängerung und Ausweitung der Grenzkontrollen sowie rigorose Zurückweisungen von Migranten, die aus einem EU-Staat einreisen, müsste Bundesinnenministerin Nancy Faeser anweisen. Die SPD-Ressortchefin und die übrige Bundesregierung wären an einen mehrheitlich verabschiedeten Antrag des Bundestages aber nicht gebunden.
Die Inhaftnahme von irregulär eingereisten Menschen und der unbegrenzte Ausreisearrest für Straftäter und Gefährder bräuchten wiederum eigene Gesetzgebungsverfahren. Diese sind bis zur Bundestagswahl kaum zu machen. Nach der kommenden Plenarwoche soll der Bundestag im Februar nur noch ein einziges Mal zusammenkommen. Die Ausschussarbeit, wo Gesetze im Kern ausverhandelt werden, liegt ohnehin weitgehend still.
"Keinen Grund, Friedrich Merz entgegenzukommen"
Irritiert zeigen sich die Grünen auch, weil andere, schon fertige Gesetze der geplatzten Ampelregierung zur besseren Kontrolle der Migration sowie zum Umgang mit Straftätern und Gefährdern vor Jahresfrist von der Union blockiert worden waren. Sei es das Sicherheitspaket der Bundesregierung oder die Umsetzung der neuen Regelungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS). "Es gibt überhaupt keinen Grund, Friedrich Merz entgegenzukommen. Die Bundesregierung hat schon in den letzten Monaten viele Dinge auf den Weg gebracht", sagte Banaszak zu ntv. "Es war die Union von Friedrich Merz, die im Bundesrat das Sicherheitspaket verhindert hat und abgeschwächt hat, worauf wir uns in der Bundesregierung verständigt haben."
Aus Grünen-Sicht ist zudem weder im Fall des Terroranschlags in Magdeburg noch im Fall des Messerattentats von Aschaffenburg aufgeklärt, warum Behörden bestehende Möglichkeiten gegen die zuvor schon auffälligen Täter nicht zur Anwendung gebracht haben. "Verschiedene Täter hätten eigentlich das Land verlassen müssen. Das wurde nicht eingehalten, weil die Behörden zu langsam arbeiten", sagte Habeck. Er forderte, Vollzugsdefizite zu identifizieren und zu beheben.
"Da hat ein Täter Kinder ermordet. Ich meine, wie kaputt, wie krank kann man eigentlich sein. Das ist wirklich eine Katastrophe", sagte Habeck über Aschaffenburg, wo ein zweijähriges Kind und ein Mann getötet und zwei Menschen schwer verletzt worden waren, darunter ein weiteres Kind. "Man darf darüber nicht hinweggehen, was das für ein schockierendes Ereignis ist. Der Parteitag hatte mit einer Gedenkminute für die Opfer von Aschaffenburg begonnen.
Habeck hofft auf besseres Ergebnis als 2021
In seiner Grundsatzrede schlug Habeck eine Brücke vom Amtsantritt des US-Präsidenten Donald Trump zum jüngsten Vorstoß von Friedrich Merz. "Das ist 'Germany first'. Das ist 'Ich interessiere mich nicht für die anderen'", sagte Habeck mit Blick auf das Trump-Motto 'America first' ("Amerika zuerst"). "Wir brauchen aber nicht 'Germany first' oder 'Italy first' oder 'France first', sondern wir brauchen ein klares Verständnis, dass Europa in dieser herausfordernden Zeit zusammenstehen muss."
Habeck warb für ein Deutschland, das für ein vereintes Europa einstehe, für Demokratie und für Rechtsstaatlichkeit. "Wir werden den Populismus nicht schlagen, nicht besiegen, indem wir ihn adoptieren", warnte Habeck auch in Richtung Merz. Die Grünen wollten weder dem Pessimismus noch der Sehnsucht nach vergangener Zeit nachgeben. "Zuversicht ist Arbeit an der Hoffnung", sagte Habeck, der sich zumindest Hoffnung auf ein besseres Wahlergebnis als noch 2021 macht.
Damals hatte die Partei zur Bundestagswahl 14,8 Prozent der Stimmen geholt, nachdem sie Monate zuvor noch deutlich über 20 Prozent lag. Nun liegen die Grünen in Umfragen zwischen 13 und 14 Prozent der Stimmen und sehen sich in einem langsamen, aber stetigen Aufwärtstrend. Seit Monaten spekulieren nicht nur die Grünen, ob der in Umfragen haushoch führende, aber als impulsiv geltende Kanzlerkandidat Merz selbst noch einmal das Kanzlerrennen spannend machen könnte durch einen Patzer oder eine undurchdachte Provokation. In diese Kategorie könnte der entbrannte Streit über den Umgang der Union mit AfD und BSW fallen.