Der neue SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch startet mit Hypothek ins Amt: Sein Wahlergebnis zeigt auch den Widerstand gegen den Durchmarsch von Parteichef Klingbeil.
Matthias Miersch scheint nervös zu sein. Er hat leicht zittrige Hände, als er am Mittwochmorgen im Fraktionssaal der SPD steht und einen Briefumschlag in die Innentasche seines Sakkos schiebt. Miersch hat Pläne, und in Kürze klärt sich, ob sie aufgehen oder durchkreuzt werden.
Der 56-Jährige will SPD-Fraktionschef werden, ein einflussreicher Posten, ein Amt, mit dem er schon lange geliebäugelt hat. Aber vor allem will er kommende Woche gern zum Konzert von Roland Kaiser in Berlin gehen. Sofern es die Terminlage zulässt, schränkt die neue Arbeitsministerin Bärbel Bas ein, die ihn begleiten soll. Beide sind glühende Fans des Schlagerstars, übrigens selbst ein Sozialdemokrat, und wollen nächste Woche gemeinsam Hits wie "Warum hast Du nicht nein gesagt" in der Arena genießen. Deshalb hütet er den Briefumschlag wie einen Schatz: Da sind die Konzertkarten drin.
Zumindest die Wahl zum Fraktionsvorsitzenden glückt, 83,2 Prozent der SPD-Abgeordneten sagen "Ja" und wählen Miersch zu ihrem neuen Vorsitzenden. Es ist kein überragendes Ergebnis. Eher eines der Sorte, das zu denken gibt – oder ihm zu denken geben soll: über sich. Und über sein Verhältnis zum Chef.
Das hat Seltenheitswert in der SPD
Miersch lässt sich das nicht anmerken, als er später am Spreeufer vor dem Reichstag ein paar Worte in die Kameras spricht. Man müsse begeistert sein, um große Taten zu vollbringen, sagt er mit Begeisterung im Gesicht. "Wir wollen die sozialdemokratische Handschrift sehr deutlich erkennbar werden lassen" und die Versprechen im SPD-Koalitionsvertrag umsetzen, kündigt er an.
Das dürften seine Partei und Fraktion auch erwarten.
Lars Klingbeil, sein Amtsvorgänger, hatte zuletzt ein "ehrliches" Ergebnis (85,6 Prozent) von der auf 120 Abgeordnete geschrumpften Fraktion bekommen, wie Klingbeil selbst nach der Wahl betont demütig einräumte. Der Parteichef hatte noch am Abend der historischen Wahlniederlage nach dem Fraktionsvorsitz gegriffen, um in den Koalitionsgesprächen möglichst viel Verhandlungsmacht auf sich zu konzentrieren. Abgezockt, aber effektiv. Nun ist Klingbeil neuer Vizekanzler und Finanzminister. Er hat die SPD auf sich zugeschnitten und andere zentrale Posten mit Vertrauten und Loyalisten besetzt. Und der Wichtigste unter ihnen ist Matthias Miersch.
Der hat den angestauten Unmut über das ausgehandelte Personaltableau – das er als SPD-Generalsekretär und Klingbeil-Vertrauter mitverantwortet – offenbar zu spüren bekommen. Viele namhafte und erfahrene Genossen sind bei der Postenvergabe leer ausgegangen. Hubertus Heil, dem früheren Arbeitsminister, wurden auch Ambitionen auf den Fraktionsvorsitz nachgesagt. Er nahm sich jedoch aus dem Spiel mit der Begründung, dass ihm der Rückhalt der Parteiführung fehle.
Mierschs Rückhalt in der Fraktion ist zumindest ausbaufähig. Das Ergebnis dürfte auch das Signal sein, dass es vorbei sein soll mit den Alleingängen, die Genossen mitgenommen werden wollen. Miersch startet mit einer Hypothek ins Amt. In große Fußstapfen tritt er sowieso. Er wird an seinem Amtsverständnis gemessen werden, also daran, ob er die Abgeordneten zu Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein ermuntert.
Matthias Miersch hat bei Wortmeldungen selbst oft genug der eigenen Überzeugung den Vorrang vor der Mehrheitsfähigkeit seiner Position gegeben. Der 56-Jährige ist ein erfahrener Parlamentarier und mit den Abläufen im Bundestag bestens vertraut. Seit 2005 gehört er dem Parlament an, hat jedes Mal sein Mandat im Wahlkreis Hannover-Land II direkt gewonnen – bei der vergangenen Bundestagswahl zum sechsten Mal in Folge. Gegen den Bundestrend. Das hat mittlerweile Seltenheitswert in der SPD, die bei der Bundestagswahl auf 16,4 Prozent zurechtgestutzt wurde.
Matthias Miersch und die "Merz-CDU"
Der frühere Chef der SPD-Linken im Bundestag hatte sich als Fachpolitiker (Umwelt, Klima, Energie) mit SPD-Ministern wie Sigmar Gabriel angelegt, aber auch für höhere Aufgaben empfohlen. Immer wieder wurde er für den Fraktionsvorsitz gehandelt, bis er im Oktober überraschend als kommissarischer Generalsekretär auf den erkrankten Kevin Kühnert folgte. "Diese Merz-CDU verkörpert so ziemlich alles, für das ich nicht stehe", verkündete Miersch bei seinem Amtsantritt im Willy-Brandt-Haus. Nun wird er mit Jens Spahn, den die Unionsfraktion übrigens mit 91,3 Prozent ins Amt gewählt hat, die schwarz-roten Mehrheiten organisieren müssen. Wie man seit der Kanzlerwahl weiß, kann das eine tückische Aufgabe sein.
Während Friedrich Merz bibbern muss, dass ihm sein ambitionierter und gern mal eigensinniger Fraktionschef Spahn das Kanzlerdasein erschwert, hat Klingbeil mit Miersch wohl nichts dergleichen zu befürchten. Sie gelten als enge Vertraute. Und darin liegt möglicherweise das Problem; der Spagat, den Miersch bewältigen muss.
Will sich Miersch an seinen populären wie einflussreichen Amtsvorgängern messen lassen, wird er nicht umhin kommen, der SPD-Fraktion eine eigene Stimme im Regierungsalltag zu geben – und der Regierung, also auch seinem Vertrauten und Vizekanzler Klingbeil, zu widersprechen. Die Regierungspolitik zu kritisieren und, im Zweifel, auch zu korrigieren.
Peter Struck, der insgesamt siebeneinhalb Jahre der SPD-Fraktion vorstand, prägte einst den legendären Satz: Kein Gesetz verlasse den Bundestag so, wie es hineingekommen ist. Das "Struck’sche Gesetz", bis heute ein geflügeltes Wort im Berliner Politikbetrieb, war dem bisher letzten Niedersachsen in diesem Amt (Klingbeil ausgenommen) eigentlich nur herausgerutscht. Doch formulierte der raubeinige und beliebte Fraktionschef die Macht und den Machtanspruch des Parlaments, nicht zuletzt der SPD-Fraktion als eigenständige Kraft.
Auch Miersch wolle nach dem "Struck’schen Gesetz" handeln, sagt er am Spreeufer, aber auch harmonisch mit der neuen Regierung zusammenarbeiten. Ob beides gleichzeitig geht? Das SPD-Urgestein Franz Müntefering, einst selbst Fraktionschef, würdigte den 2012 verstorbenen Struck für dessen klare Kante, wenn diese gefragt war. Es sei Peter Strucks Fähigkeit gewesen, "dass er in der Sache den Streit nicht vermieden hat, wenn er eben nötig erschien".
Müntefering wollte das mit Blick auf die anderen Fraktionen und ihre Vorsitzenden verstanden wissen, doch auch mit der schwarz-roten Bundesregierung dürfte sich Streit nicht vermeiden lassen. Einen potenziellen Konfliktpunkt spricht Miersch vor dem Reichstag an: die Schuldenbremsen-Reform, die Union und SPD im Koalitionsvertrag verabredet haben.
Miersch wird darauf pochen, er nimmt’s da sehr genau. Schließlich hat der Rechtsanwalt unter anderem über unklare Gesetzesstellen promoviert, und die entsprechende Passage im schwarz-roten Vertragswerk ist da recht eindeutig. Auch so weiß Miersch, dass für die Reform eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag notwendigist, Schwarz-Rot also auch auf die Stimmen der Grünen und Linken angewiesen sein wird. Ob die Union da mitmacht? Miersch versichert, die SPD-Fraktion werde "alles daran setzen", dass die Reform komme. Daran wird er sich messen lassen müssen.
Ob's mit dem Roland-Kaiser-Konzert kommende Woche klappt, muss sich auch noch zeigen. Der neue Kanzler Merz will an diesem Tag offenbar seine erste Regierungserklärung im Bundestag abgeben. Noch ein Spagat für Miersch.