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Die Ukraine kann nicht weiterkämpfen ohne Militärhilfe aus den USA. Aber Präsident Trump läutet erstmal "payback time" für die vergangenen drei Jahre ein. Oberst Reisner erklärt ntv.de, warum es für Europa so schwierig und dringend ist, sich im Chaos zu positionieren, und wo die Ukraine Erfolg vorweisen kann.
ntv.de: Herr Reisner, auf internationaler Bühne überschlagen sich die Ereignisse mit Blick auf das Schicksal der Ukrainer. An der Front müssen sie aber weiter stur den Invasoren widerstehen. Wie ist dort die Lage?
Markus Reisner: Wir sehen unverändert - und ich weiß, ich wiederhole mich - massive russische Angriffe. Die ukrainische Armee verzögert den Vormarsch aber immer noch so weit erfolgreich. Wenn Sie die lange Frontlinie betrachten, von Saporischschja hinauf Richtung Donezk und Luhansk, gibt es die Stadt Kupjansk. Hier ist es den Russen nördlich der Stadt gelungen, drei Brückenköpfe jenseits des Flusses Oskil zu bilden. Hier könnten sie es schaffen, kombiniert mit einem Angriff aus Schebekino, ein großes Stück Territorium aus der Ukraine herauszubrechen.
Wie groß wäre dieses Stück?
Die Russen versuchen, von zwei Seiten eine Art Flankenbewegung durchzuführen, eine Zangenbewegung, und schlussendlich könnnte es gelingen nach Wochen, den Kessel einzudrücken. So wie das bei Kurachowe gelungen ist: Das war ein massiver Kessel von circa 30 bis 40 Kilometern in der Tiefe, der mittlerweile zur Gänze an die russische Seite gefallen ist. Den möglichen Kessel nördlich Kupjansk müssen Sie sich wie ein Rechteck vorstellen. Auf der schmalen Seite hat es ungefähr 30 Kilometer, die lange Seite misst etwa 120 Kilometer. Ob das am Ende von Russland besetzt wird, sei dahingestellt. Aber aus ihrer Sicht bietet sich dieser Raum operativ am stärksten an, um es zu versuchen.
Wenn Sie sagen, die Ukrainer verzögern den russischen Vormarsch: Ist es entlang der Front ein einziges, stetiges Zurückweichen?
Die größte Herausforderung auf strategischer Ebene ist für die Ukraine weiterhin, verfügbare Soldaten zu generieren. Das ist auch im Bereich Kursk gut sichtbar. Hier ist ein ganzes Sammelsurium unterschiedlichster ukrainischer Einheiten im Kampf. Auf den ersten Blick sieht das sehr potent aus, aber die Einheiten sind einfach zum Teil enorm ausgedünnt. Der Generalstab versucht, so rasch wie möglich Kräfte nachzuführen. Aber derzeit hat ein ukrainisches Bataillon von 500 Mann im Schnitt nur maximal ein Drittel davon zur Verfügung.
Wie sieht es am Himmel über der Ukraine aus?
In der Nacht zu Sonntag hatten wir erstmals die unglaubliche Zahl von 267 russischen "Geran-2"-Drohnen, die in den ukrainischen Luftraum eingeflogen sind. Das sind Angriffsdrohnen in der Größe eines Mini-Coopers. In der Nacht zu Montag waren es immer noch 185 Drohnen. Inzwischen stellen die Russen in zwei Fabriken diese Drohnen her. Wir müssen also damit rechnen, dass die russische Armee in Zukunft 200 bis 250 Drohneneinflüge pro Nacht durchführt. Das erhöht den Sättigungseffekt für die ukrainische Fliegerabwehr enorm.
Sie überfordern also mengenmäßig die ukrainische Flugabwehr, so dass am Ende einige der Drohnen ihren Weg durch die Luftverteidigung schaffen und ihr Ziel in der Ukraine treffen …
… mit der Intention, die kritische Infrastruktur im Landesinneren weiter zu zerstören. Schauen wir aber auch kurz auf Erfolge der Ukrainer: Westlich von Pokrowsk haben sie es geschafft, mithilfe massiver Angriffe einen Teil der unterbrochenen Versorgungslinie wieder in Besitz zu nehmen. Vielleicht erinnern Sie sich: Die Russen hatten die Ortschaft Kotlyne an der wichtigen Eisenbahnlinie in Richtung Pokrowsk besetzt. Die Ukrainer haben den Ort zurückerobert und auch einen erfolgreichen Entlastungsangriff südlich bei Pishane geführt. Ein paar Quadratkilometer konnten sie damit wieder gutmachen.
Was zeigt der Blick nach Kursk auf russisches Territorium, das die Ukraine teils besetzt hält?
Dort stehen die Ukrainer massiv unter russischem Druck. Die russische Armee drängt sie stetig zurück, eine wichtige ukrainische Versorgungsroute steht zunehmend unter Feuer. Das macht es für Kiews Armee schwer, sich dort zu halten. Die heftigen Kämpfe dauern an.
Wenn wir einmal das Gefechtsfeld verlassen: Wie ist der Stand mit Blick auf Verhandlungen über einen Waffenstillstand? Die Gespräche vor einer Woche in Riad fanden ohne die Ukraine statt. Steht sie mit dem Rücken zur Wand?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bietet inzwischen im Gegenzug für eine Nato-Mitgliedschaft seinen eigenen Rücktritt an. In den vergangenen Wochen, seit Donald Trump die US-Präsidentschaft übernommen hat, sehe ich hier eine massive Verschlechterung der ukrainischen Position. Sie reicht vom offerierten Geländetausch bis zum jetzt aktuellen Rücktrittsangebot.
Laut der Sprecherin des Weißen Hauses war Trump jüngst optimistisch, sich vielleicht noch in dieser Woche mit Russlands Präsident Wladimir Putin auf eine Beendigung des Krieges zu einigen. Scheint das realistisch?
Diese Ankündigung wirkt auf mich sehr ambitioniert. Feststellbar ist aber, dass das Trump-Team mit Hochdruck an einem Ergebnis arbeitet. Aus meiner Sicht an einem Ergebnis zu Ungunsten der Ukraine.
Der Seltene-Erden-Deal ist in München nicht zustande gekommen. Könnte ein solcher Vertrag der Ukraine mehr Sicherheit für die Zukunft geben?
Trump hat inhaltlich analog zum Vertragspapier gefordert, für jeden US-Dollar, den die USA für die Ukraine bislang ausgegeben haben, zwei Dollar zurückzubekommen. Und zwar in Form von Schürfrechten auf Ressourcen - seltene Erden, Erdöl, Gas. 50 Prozent ihrer Ressourcen soll die Ukraine den USA überschreiben im Sinne einer privatwirtschaftlichen Ausbeutung. 50 Prozent aus dem Grund, weil die andere Hälfte der Vorkommen in russisch besetzten Gebieten liegt. Sicherheitsgarantien waren vorerst nicht im Vertrag enthalten, das hat der amerikanische Finanzminister deutlich gemacht.
Das war also ein Vertrag unter dem Stichwort Payback. Er bezieht sich an keiner Stelle auf zukünftigen Schutz - für die Ukraine unannehmbar?
Das wäre ein radikaler Ausverkauf, eine Katastrophe. Trumps Forderung ist unmoralisch und unannehmbar. Das Problem ist: Die Ukraine kommt jetzt von zwei Seiten unter Druck. Von den Russen einerseits, die Kiew in einen Diktatfrieden zwingen wollen. Andererseits von den Amerikanern unter Trump, die beinhart eine Gegenleistung für ihre bislang geleistete Hilfe verlangen - in Form von diktiertem Ressourcenabbau. Es scheint sogar, dass die US-Rüstungsindustrie ziemlich in Bedrängnis gekommen ist, weil auch sie nicht das liefern konnte, was die Ukrainer an der Front dringend brauchten. Sie dürfen nicht vergessen, es geht auch um Lieferungen an Israel und um eine Abschreckung Chinas. Alle diese Mittel kosten unglaublich viel Geld.
Das ist eine enorm fragile sicherheitspolitische Situation. Welche Schlüsse sollte Europa aus Ihrer Sicht ziehen?
Das Wesentliche, das wir mitnehmen sollten, ist die Notwendigkeit zu überlegen, wie wir in diesem inzwischen wilden Hauen und Stechen bestehen möchten. Vor allem, wenn folgende Bedingungen herrschen: Die USA verfolgen tatsächlich unilateral, also nur mit Blick auf ihr eigenes Geschick, ihre Ziele und signalisieren zugleich den Russen, dass sie ihrem Eroberungswillen in Osteuropa keine Grenzen setzen und keinen Riegel vorschieben werden. Zugleich beginnt China im Hintergrund immer stärker, mit den Säbeln zu rasseln. Indien ist der große Nutznießer und der globale Süden als Gesamtes macht sich selbstständig. Wenn das die Bedingungen sind, dann muss sich Europa überlegen, wie es mit dieser Zukunft umgehen soll. Wenn Europa sich nicht zu einem entmündigten Rohstofflieferanten entwickeln will, dann muss es sich völlig neu aufstellen. Das europäische Potential dazu ist da, ein unglaubliches Potential in der verfügbaren Bevölkerung und auch an den noch vorhandenen technologischen Möglichkeiten.
Sehen Sie Deutschland als bevölkerungsreichste, wirtschaftsstärkste Nation innerhalb der EU in der richtigen Spur?
Ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass der künftigen Bundesregierung bereits bewusst ist, welche riesige Verantwortung hier auf ihren Schultern lastet. Sie sehen Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron mehr oder weniger gelähmt, auch aufgrund der innenpolitischen Situation. Großbritannien ist nicht mehr Teil der EU und hat auch nicht mehr die Strahlkraft vergangener Zeiten. Damit sind wir bei Deutschland, von dem man in den vergangenen Jahren immer wieder erwartet hat, eine Führungsrolle zu übernehmen. Kanzler Olaf Scholz ließ nicht erkennen, dass er bereit war, in diese Führungsrolle hineinzuwachsen. Wenn Friedrich Merz als Nachfolger seine Regierung gebildet haben wird, werden sich alle Augen auf Deutschland richten. Man wird ihn fragen: Wie geht es weiter? Was schwebt Dir vor? Übernehmt Ihr eine Führungsrolle in Europa?
Bisher ist Merz noch nicht bereit, sich zu der Option zu äußern, dass an einer späteren Waffenstillstandslinie womöglich auch die Bundeswehr mit absichern könnte, dass die Waffen wirklich schweigen. Ein Versäumnis?
Stellen Sie sich vor, deutsche Soldaten würden in den Einsatz in der Ukraine gehen. Es gibt dazu keine Resolution des UN-Sicherheitsrats, weil Russland dem natürlich nicht zustimmen würde. Das heißt, die Soldaten würden ihren Dienst nicht mit einem UN-Mandat verrichten, sondern als Teil einer - sagen wir - Koalition der Willigen. Wenn sich aus dieser nun aber die USA raushalten, wenn sie also dieser Koalition nicht angehören, dann wäre ein russischer Angriff auf die deutschen Soldaten in der Ukraine eine bilaterale Herausforderung. Eine Sache zwischen Deutschland und Russland.
Es wäre auch kein Fall für die Nato, oder?
Weil die Ukraine kein Nato-Territorium ist, wäre es kein Fall für Artikel 5. Jetzt frage ich Sie: Welche Bedrohung, welche Abschreckung kann Deutschland - oder auch jedes andere europäische Land - gegenüber Russland entwickeln im Falle eines derartigen Angriffs? Wenn Deutschland wüsste, dass die USA nicht hinter hinter ihnen stehen und es selbst nicht abschreckungsfähig ist, dann wäre tatsächlich höchste Vorsicht geboten. Denn die Russen wissen das auch. Sie kennen die Fähigkeiten der einzelnen europäischen Streitkräfte und wissen, dass diese in der Nato nur abschreckungsfähig sind, weil vor allem die USA die nukleare Komponente mit einbringen. Fällt diese Weg, stehen wir schutzlos da.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer