Von den wenigen F-16-Kampfjets, die in der Ukraine angekommen sind, ist ein Flieger schon wieder abgestürzt. Wie fatal ist das? Und wie lange können Kiews Truppen Pokrowsk noch gegen die Russen verteidigen? Was die harten Kämpfe entscheiden wird, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.
ntv.de: Herr Reisner, letzte Woche erwähnten Sie das Risiko, dass ein vom Westen gelieferter F-16-Kampfjet vom Himmel fällt, und wie fatal das militärisch und symbolisch wäre. Nun scheint das passiert zu sein. Was weiß man darüber?
Markus Reisner: Bis jetzt gibt es widersprüchliche Angaben. Zuerst wurde von einem Absturz gesprochen, dann von einem versehentlichen Abschuss durch eine ukrainische Patriot-Fliegerabwehrbatterie. Letzterem haben gestern Abend US-Offizielle widersprochen. Damit steht im Raum, dass die F-16 und ihr Pilot möglicherweise bei dem massiven Luftangriff am 26. August durch einen russischen Marschflugkörper am Boden getroffen wurde. In Frage kommt aber auch ein technisches Versagen, zum Beispiel aufgrund eines Wartungsfehlers. Dies alles sind aber im Moment Spekulationen.
Lassen sich dennoch schon Schlüsse ziehen? Ist es vielleicht doch zu kühn, Piloten nach wenigen Monaten Ausbildung am neuen System in den Kampf zu schicken?
Sollte es zu einem Abschuss durch eine ukrainische Patriot-Fliegerabwehrbatterie gekommen sein, dann zeigt dies, dass die Ukraine Schwierigkeiten hat, ein exaktes Luftlagebild zu erstellen. Man nennt das ein "Recognized Air Picture", kurz RAP. Eine solche vernetzte digitale Lagekarte bildet alle Flugbewegungen ab, darunter in erster Linie eigene und feindliche Kräfte. Es dient vor allem zur zweifelsfreien Zielzuweisung.
Und wenn ein solches RAP nicht oder nur eingeschränkt vorhanden ist?
Dann kann es zu gravierenden Fehlern kommen, auch zum Abschuss einer eigenen Maschine. Sollte der Pilot hingegen den möglichen Absturz selbst verursacht haben, kann es tatsächlich ein Bedienungsfehler gewesen sein. Sollten die Russen dahinterstecken, würde dies zeigen, dass sie die ukrainischen Flugplätze unter permanenter Beobachtung haben.
Bislang scheint der Kreml die zerstörte F-16 propagandistisch kaum auszuschlachten. Lässt sich das erklären?
In den russischen sozialen Netzwerken wurden schon einige Anstrengungen unternommen, um die ukrainische Luftwaffenführung zu diskreditieren. Man wollte den F-16-Einsatz von Beginn an als gescheitert darstellen und versucht jetzt, den Verlust der Maschine als russischen Erfolg zu verkaufen. Hier bleiben sie aber jeden Beweis schuldig. Weder kursieren Videos, die einen Luftkampfabschuss zeigen, noch das Video eines Treffers auf einer am Boden abgestellten F-16. Ohne einen sichtbaren Beweis ist der Verlust aber nicht den Russen zurechenbar.
In den vergangenen Tagen schauen Beobachter vor allem nach Pokrowsk im Osten der Ukraine. Viele Menschen fliehen von dort, heißt es, weil die Russen ihrem Ziel, die Stadt einzunehmen, näher kommen. Wie ist die Lage dort?
Die Russen befinden sich weiter auf dem Vormarsch und setzen Pokrowsk massiv unter Druck. Von Kupjansk bis Saporischschja greifen sie mit insgesamt sechs operativen Manövergruppen an. Hinzu kommen zwei weitere bei Charkiw und Kursk. Im Donbass bilden drei der sechs Manövergruppen ein Schwergewicht mit etwa 150.000 Soldaten. Sie versuchen, die ukrainischen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen. Durch den Vorstoß bei Kursk, wollte die Ukraine dem Höhepunkt der russischen Sommeroffensive zuvorkommen. Man wollte den Russen quasi den Wind aus den Segeln nehmen. Dies gelang jedoch nicht. Um Pokrowsk wird nun hart gekämpft, es ist ein wichtiger ukrainischer Logistikknotenpunkt und Stützpunkt der dritten Verteidigungslinie.
"Harte" Kämpfe meldet auch die ukrainische Seite von dort. Worauf bezieht sie sich?
Die Russen nehmen ostwärts von Pokrowsk Tag für Tag weitere Ortschaften ein. Viele so schnell, dass die Orte teilweise relativ unversehrt bleiben. Die russischen Truppen haben es geschafft, die zweite Verteidigungslinie zu durchbrechen. Im Moment sehen wir einen Dominoeffekt, wenn auch begrenzt: Durch den Fall einer Ortschaft, werden die benachbarten verteidigenden Ukrainer in der Flanke bedroht. Sie müssen sich zurückziehen und die nächste Ortschaft fällt an die Russen. Bilder in den sozialen Medien zeigen einen erbitterten Kampf auf engstem Raum mit hohen Verlusten auf beiden Seiten.
Pokrowsk liegt ein Stück weit westlich der Frontlinie und es würde ein "Korridor" entstehen, wenn die Stadt eingenommen würde. Hätten die Ukrainer Chancen, diesen Korridor von Norden und Süden aus abzuschneiden und damit die feindlichen Truppen von der Versorgung zu trennen? Sie sogar einzukesseln?
Dazu bräuchten sie bewegliche und nicht gebundenen operative Reserven. Also Truppen, die im Raum verfügbar wären und auch kampfkräftig.
Was hieße "kampfkräftig" in diesem Fall?
Kampfkräftig heißt, sie müssten mechanisiert sein, also Panzer haben, um eine entsprechende Stoßkraft entwickeln zu können. Möglich ist auch der Einsatz strategischer Reserven. Diese müssten aber erst herangeführt werden. Die Ukraine hat angekündigt die Brigaden 160 bis 169 neu aufzustellen. Dieses Jahr hat man dies bereits mit den Brigaden 150 bis 159 versucht. Die waren eigentlich erst für die nächste Offensive vorgesehen, wurden aber sofort an den kritischsten Abschnitten der Front eingesetzt.
Noch sind die russischen Truppen etwas entfernt von Pokrowsk. Wenn sie aber bebautes Gebiet erreichen, wird dann eine Art Häuserkampf beginnen?
Ähnliches haben wir in den letzten zweieinhalb Jahren immer wieder gesehen. Denken sie zum Beispiel an die Kämpfe um Mariupol, Lyssytschansk, Bachmut oder Awdijiwka. Der Verteidiger hat den Vorteil, dass er sich im urbanen Raum optimal verbergen und einrichten kann. Er kann aus dem Hinterhalt agieren. Die angreifenden Russen reagieren darauf mit massiver Gewalt. Ein Häuserblock nach dem anderen wird durch Artillerie, Raketenwerfer und Gleitbomben dem Erdboden gleichgemacht. Dieses Schicksal droht nun auch Pokrowsk.
Sie erwähnten schon die Bedeutung des Ortes für die Logistik der Ukrainer. Wo entstehen die größten Probleme, wenn die Russen die Stadt einnehmen sollten?
Es ist denkbar, dass die Ukraine mit herangebrachten Reserven die dritte Verteidigungslinie inklusive Pokrovsk rechtzeitig stabilisiert. Gelingt das jedoch nicht, dann wäre neben der Einnahme der Stadt durch die Russen auch ein tiefer Durchbruch in Richtung Westen vorstellbar. Dies könnte zu einem Zusammenbruch der ukrainischen Donbass-Front führen. Das muss die Ukraine auf jeden Fall verhindern.
Haben die Ukrainer denn reale Chancen, die Stadt gegen die russischen Truppen zu verteidigen?
Das hängt alles vom Zustand der Kräfte beider Seiten ab. Den Ukrainern kommt trotz ihrer Rückwärtsbewegung entgegen, dass auch die russischen Kräfte schwer angeschlagen sind. Es wartet hinter den angreifenden Soldaten der ersten und zweiten Staffel keine dritte voll aufgefüllte und kampfkräftige Staffel, die im entscheidenden Moment auf einen Erfolg der russischen Angreifer aufsatteln könnte. Doch die Russen werfen in den Kampf, was sie verfügbar haben. Genauso wie es die Ukrainer tun. Der, der den längeren Atem und ein Mehr an Ressourcen hat, gewinnt.
Wie sieht es derweil in Kursk aus, wo die Ukraine seit mehreren Wochen russisches Territorium kontrolliert? Reichen die Truppen, die Russland dorthin verlegt hat, um den Angriff der Ukrainer in Schach zu halten?
Das Momentum der ukrainischen Offensive in Kursk ist zum Erliegen gekommen. Wir sehen nun zunehmend mehr russische Gegenstöße. Die Ukrainer versuchen hingegen lokal begrenzt, günstige Verteidigungsstellungen zu gewinnen. Dazu müssen sie große freie Flächen aufgeben und Waldstücke, Höhen oder Ortschaften in Besitz nehmen. Denn diese eignen sich besser für einen hinhaltenden Kampf. Das Problem sind die Luftüberlegenheit sowie die elektronischen Störmaßnahmen der Russen. Beides bereitet den Ukrainern zunehmend Schwierigkeiten. Sie versuchen in Kursk, beweglich und flink zu bleiben.
Kann es den Ukrainern gelingen, ihre Geländegewinne zu stabilisieren und diese Waldstücke, Höhen und Ortschaften auch dauerhaft gegen die russische Gegenwehr zu halten?
Auch hier hängt wie im Donbass alles vom Zustand der Kräfte beider Seiten ab. Die Russen führen täglich Kräfte nach. Vor allem aus dem Raum nördlich von Charkiw. Dort sind die russischen Angriffe daher nahezu zum Erliegen gekommen. Die Russen gehen bei Kursk und Charkiw systematisch vor. Sie klären auf und bekämpfen erkannte Ziele mit Artillerie und Gleitbomben. Ziel ist es, die Ukrainer zu zermürben. Genau aus diesem Teufelskreis muss die Ukraine wieder entkommen. Sie hat hier aber einen entscheidenden Nachteil: Die westlichen Unterstützer, vorrangig die USA, erlauben nicht, weitreichende westliche Waffensysteme tief hinter den russischen Linien einzusetzen.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer