Die FPÖ hat gute Chancen, die Nationalratswahl am Sonntag zu gewinnen. Durch Tricks kann sie die Gefühle der Österreicher für sich nutzen und von ihren Skandalen ablenken, sagt Peter Filzmaier, einer der renommiertesten Politikwissenschaftler Österreichs.
ntv.de: Eine Brandmauer wie die zur AfD in Deutschland gibt es in Österreich zur FPÖ nicht. Sowohl die ÖVP als auch die SPÖ haben schon mit den Rechtsextremen koaliert. Wie wahrscheinlich ist eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ nach der Wahl?
Peter Filzmaier: Inhaltlich wäre es die wahrscheinlichste Variante. Da liegt die Übereinstimmung von FPÖ und ÖVP zwischen 70 und 80 Prozent. Das ist höher als zwischen allen anderen Parteien. Die Übereinstimmung von ÖVP und Grünen, die jetzt miteinander regieren, liegt bei 30 Prozent. Die Frage nach der Koalitionsbildung ist aber zugespitzt auf die Person Herbert Kickl, den Parteiobmann der FPÖ. Bundeskanzler Karl Nehammer von der ÖVP hat eine Koalition mit Kickl ausgeschlossen, zumindest falls er schnell eine andere Regierungsmehrheit verhandeln kann - sei es mit der SPÖ oder mit dieser und mit einem dritten Partner. Falls die ÖVP ein schlechtes Wahlergebnis erzielt, gibt es aber die Möglichkeit, dass Nehammer als Parteichef von jemandem abgelöst wird, der an einer Zusammenarbeit mit der FPÖ interessierter ist. Die ÖVP gerät auch unter Druck, weil die FPÖ vor kurzem ein Wirtschaftsprogramm verabschiedet hat, das alle Wunschvorstellungen eines ÖVP-Wirtschaftsprogrammes erfüllt.
Welche inhaltlichen Überschneidungspunkte gibt es darüber hinaus zwischen ÖVP und FPÖ?
Die Überschneidungen sind im Bereich der Zuwanderungs- und der Sicherheitspolitik gegeben sowie bei der Nachhaltigkeit von Klimaschutz. Beide Parteien sind für weniger radikale Maßnahmen, um den Klimawandel zu bekämpfen. In der Sozialpolitik setzen beide auf Wirtschaftswachstum und vertrauen eher dem freien Markt als staatlichen Eingriffen. Mitte-Links-Parteien sind beispielsweise für Preisobergrenzen bei den Mieten und Lebensmitteln. Da ist man sich einig, dass man das nicht will.
Bislang gibt die ÖVP an, nicht mit der FPÖ koalieren zu wollen, wenn deren Vorsitzender Herbert Kickl Teil der Regierung wird. Was wäre denn der Unterschied zwischen einer Regierung mit Kickl und einer ohne ihn?
Im Bundesland Niederösterreich gibt es de facto eine Koalition zwischen der ÖVP und FPÖ. Es sind keine Abweichungen zwischen den Positionen des dortigen FPÖ-Chefs Udo Landbauer und denen von Kickl zu erkennen. Es geht der ÖVP auf nationaler Ebene nicht um einen inhaltlichen, sondern um einen machtpolitischen Unterschied. Falls die FPÖ die meisten Stimmen holt, wäre die ÖVP erstmals ihr Juniorpartner, mit einem dominanten FPÖ-Parteichef. Wenn die FPÖ die Wahl gewinnt, wird sie auf Kickl in der Regierung auf keinen Fall verzichten, sondern lieber aus der Oppositionsrolle heraus in den Jahren bis zur nächsten Nationalratswahl einen andauernden Wahlkampf führen. Die Wahrscheinlichkeit von einer Zusammenarbeit mit der FPÖ steigt daher paradoxerweise, wenn die ÖVP die Wahl gewinnt. Dann wird die FPÖ gesprächsbereit sein. Kickl könnte zum Beispiel Parteichef und Klubobmann im Parlament bleiben, aber der Regierung nicht angehören.
Auch eine Dreier-Koalition aus ÖVP, SPÖ und den liberalen Neos oder den Grünen wäre möglich. Was spricht dafür?
Zunächst ist es sehr davon abhängig, ob Kleinparteien, insbesondere die Kommunisten oder die Bierpartei, in den Nationalrat einziehen oder nicht. Schaffen es nämlich diese Kleinparteien nicht hinein, kann es vielleicht sogar eine Zweiermehrheit durch eine Koalition von ÖVP und SPÖ geben. Wenn es aber beide Kleinparteien in den Nationalrat schaffen, gibt es womöglich gar keine Möglichkeit für eine Zweiermehrheit. ÖVP und SPÖ werden sich nur einen dritten Partner suchen, wenn sie es müssen. Für die Dreier-Variante spricht nichts, außer dass sie gegebenenfalls rechnerisch sein muss. Zwischen ÖVP und SPÖ sind die inhaltlichen Differenzen sehr groß. Mit den Neos oder den Grünen als drittem Partner würde ein politischer Konsens noch schwieriger werden.
Die letzte Koalition aus FPÖ und ÖVP ist geplatzt aufgrund der Ibiza-Affäre um den damaligen FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache vor fünf Jahren. Warum hat der Skandal der Beliebtheit der FPÖ nicht geschadet?
Die FPÖ konnte ihren Markenkern als Oppositionspartei erhalten, obwohl sie bereits dreimal in der Bundesregierung war und es zuletzt ja die Affäre um Heinz-Christian Strache gab. Die häufigen Wechsel in der Parteiführung haben ihr geholfen. Beim Ibiza-Video ist es gelungen, Strache als einzigen Schuldigen auszumachen, der dann aus der Partei austrat und sein Amt abgab. Bemerkenswert ist aber etwas, das in Deutschland kaum wahrgenommen wurde: Unmittelbar nach dem Ibiza-Video hatte Strache eine Spesenaffäre am Hals. Strache hat als Großfürst auf Parteikosten gelebt, auch mit Privatkosten, die übernommen wurden. Dafür braucht es neben Strache, der das Geld genommen hat, einen anderen, der es bezahlt hat. Das muss die Wiener FPÖ oder die Bundespartei gewesen sein, wo Kickl selbst sogar früher einmal Geschäftsführer war. Aber da profitieren Kickl und die FPÖ vom Kurzzeitgedächtnis der Wählerschaft.
Was trägt noch zum Erfolgsgeheimnis der FPÖ bei?
In der Wahlforschung werden Wähler zu ihrer Stimmungslage befragt. Durch Krisen wächst die Zahl derer, die Gefühle wie Angst, Sorge und Wut angeben. Das Krisenmanagement und die Krisenkommunikation der österreichischen Bundesregierung waren von der Pandemie bis zur Energiekrise ähnlich wie in Deutschland, also mittelmäßig bis sehr mäßig. Die FPÖ dient den Menschen als Ventil, obwohl ein Teil ihrer Wähler der Partei nicht zutraut, es besser zu machen. Die FPÖ schafft es, die ängstlichen, besorgten und wütenden Menschen aufzusammeln. Das sind Stimmungslagen, die zum Beispiel die Sozialdemokraten in der Opposition genauso begünstigen müsste, weil soziale Sorgen und zu niedrige Einkommen ihre historischen Themen sind. Aber die SPÖ hat noch einen Führungskonflikt gehabt, als die FPÖ nach Strache schon längst wieder mit Kickl konsolidiert war. Die SPÖ hat ihre erste weibliche Vorsitzende, Pamela Rendi-Wagner, aus dem Amt gemobbt, obwohl die Partei unter ihr Umfragewerte von 30 Prozent hatte. Jetzt liegt sie knapp über 20 Prozent. Die FPÖ hat also auch von der Schwäche der anderen Parteien profitiert.
Kickl spricht, wie Mitglieder der AfD in Deutschland, von "Remigration". Kommt das bei den Wählern gut an?
Der Begriff Remigration ist strategisch unklug gewählt, denn ein Fremdwort ist für breitenwirksame Kommunikation nur die zweitbeste Variante. Remigration ist in der Medienöffentlichkeit das Wort, nicht in der FPÖ-Öffentlichkeit. Da wird mit Abschiebung, Rauswerfen und noch mit stärkeren Ausdrücken hantiert. Der FPÖ gelingt es, jedes Thema durch das sogenannte Ausländerthema zu überlagern. Auch FPÖ-Wähler glauben zum Beispiel nicht, dass ihre Kinder in Schulen besser unterrichtet werden, wenn es einen FPÖ-Bildungsminister geben würde. Das weiß die FPÖ auch. Also lässt sie sich auf diese pädagogische Diskussion gar nicht ein, sondern thematisiert: Haben wir in Österreich zu viele Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache in den Schulklassen? Die FPÖ wird auch nicht gewählt, weil Wähler denken, sie hätte gesundheitspolitisch mehr Wissen. Die FPÖ spricht also nicht über das Gesundheitssystem, sondern über das Thema: Werden im Gesundheitssystem zu viele Sozialleistungen für Ausländer vergeben? Stehen sie vor mir in der Schlange, im Wartezimmer, beim Arzt? Ich weiß nicht, ob das andere Parteien und auch ein Teil der Medien nicht durchschaut haben oder ihnen kein Gegenrezept eingefallen ist.
Dieses Projizieren von Problemen auf das Fremde, auf Minderheiten und Migranten hat schon in der NS-Zeit funktioniert. Was wäre denn Ihrer Meinung nach ein Rezept dagegen?
Es gibt einen Satz, den Wissenschaftler immer wiederholen: Bildung ist die Lösung, auch gegen Populismen, Verschwörungsmythen, Fake News sowie Radikalismen. Das und vor allem politische Bildungsarbeit ist aber eine Langzeitlösung, die in Jahren, wenn nicht in Jahrzehnten, wirkt. Österreicher haben bei der politischen Bildung jahrzehntelange Defizite, ähnlich wie Ostdeutsche, die lange in einer Nichtdemokratie leben mussten. Der Grund ist hier aber ein anderer: In Österreich hat sich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs die Opfertheorie durchgesetzt, nicht die Tätertheorie. Die Wahrheit lag in der Mitte. Wir waren als Land zwar ein Opfer, das von Hitler annektiert wurde. Aber wir hatten auch 700.000 NSDAP Mitglieder, das ist viel für so ein kleines Land. Durch die Opfertheorie gab es in Österreich keine Notwendigkeit zur breitflächigen politischen Bildung. Deutschland musste den Alliierten zusagen, viel für politische Bildung zu unternehmen, bevor diese 1949 dem Grundgesetz zustimmten. In Österreich war dies bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags sechs Jahre später nicht erforderlich. Seitdem wurde über Jahrzehnte versäumt, bei der politischen Bildung ein halbwegs hohes Niveau in Österreich zu etablieren.
Mit Peter Filzmaier sprach Lea Verstl