Die algerische Boxerin siegt im Finalkampf – und trotzt einer zermürbenden Debatte. Was der Druck für Imane Khelif bedeutet haben muss, kann man sich nur schwer vorstellen.
In der Sportanlage Roland Garros endete der Freitagabend mit einer gigantischen Party. Um 23 Uhr hatte Imane Khelif das Stadion betreten, nach der dritten Runde saß kaum noch jemanden auf den Rängen: Allen war bereits vor der Bekanntgabe der Wertung klar, dass die Boxerin ihren Kampf gegen die Chinesin Yang Liu gewonnen hatte – Gold für Algerien! Khelif hüpfte durch den Ring, sprang ihren Trainern in die Arme und wurde wenig später auf den Schultern durchs Stadion getragen. Tausende Fans jubelten ihr zu, wedelten algerische Fahnen durch die Luft, der Hallen-DJ spielte dazu stilsicher den franko-maghrebinischen Superhit "Tonton du Bled" – für viele im Publikum dürfte das der Beginn einer langen Nacht gewesen sein.
Imane Khelif gegen Yang Liu: Ein Kampf mit besonderer Vorgeschichte
Der Kampf hatte eine besondere Vorgeschichte. Imane Khelif hätte bereits bei der Weltmeisterschaft 2023 gegen Yang Liu antreten sollen. Kurz vor dem Finale war sie jedoch vom Veranstalter disqualifiziert worden. Yang gewann den Titel.
Am Freitagabend konnte die 32-jährige Sportlerin aus der Inneren Mongolei viele Treffer positionieren. Aber Khelif war flinker, sowohl mit den Beinen als auch mit den Fäusten, und letztlich ihrer erfahrenen Herausforderin klar überlegen: Die fünf Punktrichter sahen sie einstimmig in allen drei Runden vorn.
Nach dem Sieg hatte Imane Khelif vor Glück Tränen in den Augen, ihr Trainerstab sah ebenfalls erleichtert aus. Vielleicht waren alle einfach froh, dass es endlich entschieden ist: Die Algerierin ist die erste Frau des Landes und die erste Afrikanerin, die im Boxen olympisches Gold gewonnen hat. Und keine Kontroverse über Hormone oder Geschlecht kann ihr die Medaille wieder wegnehmen.
Imane Khelif: Man wollte sie als Kerl vorführen, der Frauen verprügelt
Alle Olympischen Spiele haben bekanntlich ihre besonderen Momente und Skandale – aber dass ausgerechnet Frauenboxen und X-Chromosomen zu den meist diskutierten Themen von Paris 2024 avancieren würde, hätte vermutlich niemand gedacht. Seit Imane Khelifs erstem Sieg in Frankreichs Hauptstadt quillt das Internet über mit Fotos und Theorien, die darauf abzielen, die Algerierin als "biologischen Mann" vorzuführen. Mächtige Wortführer wie Donald Trump, Elon Musk oder J.K. Rowling hetzen gegen die Sportlerin, es handele sich in Wahrheit um einen muskelbepackten Kerl, der mit Zustimmung des Olympischen Komitees Frauen verprügele.
In Khelifs Heimatdorf Bibane Mesbah saß derweil ihr Vater in einem braunen Edeka-T-Shirt vor den Kameras und zeigte den Journalisten Kinderfotos: "Meine Tochter ist ein Mädchen!" Wie entwürdigend das für alle Beteiligten gewesen sein muss, kann man sich bestenfalls vorstellen. Nach ihrem zweiten Wettkampf war Imane Khelif weinend zusammengebrochen. Jeder, der sie kennt, sagte, das sei noch nie passiert.
Imane Khelifs Ruhm hat sogar die Popkultur erreicht
In Algerien ist die 25-Jährige inzwischen eine Nationalheldin. Ihr Ruhm hat sogar die Popkultur erreicht: "Sagt über mich, was ihr wollt. Lügt so viel, wie ihr wollt – es ist mir egal", singt die französisch-algerische Künstlerin Lyna Mahyem, und sie ist längst nicht die Einzige, die der Boxerin einen Song widmet. Khelif wird als Kämpferin gefeiert, als eine Ikone des Widerstands – Themen, bei denen das Internet ebenfalls schnell überkocht. Sobald die Boxerin in Paris in den Ring stieg, wurde das zu einem Kampf gegen die westliche Dominanz und ihren Rassismus hochstilisiert. Was dieser Druck für die Sportlerin bedeutet haben muss, kann man sich ebenfalls nur schwer vorstellen.
"Es wurde noch nie über eine algerische Athletin in aller Welt so viel geredet, wie über die arme Imane", seufzte am Ende des Wettkampftages ein algerischer Journalist auf der Pressetribüne. "Statt sich in Ruhe auf ihren Sport konzentrieren zu können, stand sie plötzlich im Zentrum aller geopolitischen Zerwürfnisse." Übertrieben hat er damit nicht. Diese Woche hatte Russland die Debatte um Imane Khelif als Steilvorlage im UN-Sicherheitsrat genutzt: Paris zeige, wie Frauenrechte von der LGBT-Bewegung untergraben würden, die der Westen dem Rest der Welt aufzwingen wolle. Der Sprecher Algeriens, der sein Land wohl nur ungern in den Kontext von LGBT gerückt sehen wollte, kritisierte das empört als Agenda-Setting. Schließlich sei Imane Khelif als Mädchen geboren worden und daher zweifelsfrei eine Frau. Der Präsident des algerischen olympischen Sportbundes wiederum nutzte die Anfeindungen gegen seine Athletin für ein antisemitisches Statement: Die Boxerin sei das Opfer einer "zionistischen Verschwörung".
An der algerischen Nationalstraße 23 in Khelifs Heimatdorf feierten sie währenddessen nächtelang die "Löwin von Tiaret", deren unwahrscheinliche Karriere an diesem Ort begonnen hat. Die Olympischen Sommerspiele 2024 sind ein Sieg für Algeriens Frauen: Neben Imane Khelif hat die Kunstturnerin Kaylia Nemour Gold für das Land erkämpft – sie werden mit einer Inbrunst bejubelt, wie sie sonst nur Fußballern vorbehalten ist.
Die Athletinnen werden wichtige Vorbilder bleiben, nicht nur für Mädchen. Bleiben wird allerdings auch die Kontroverse über die geschlechtliche Kategorisierung im Frauenboxen. Für Imane Khelif, die seit 2022 überwiegend bei einem Club in Nizza trainiert, sehen die Betreuer diesbezüglich keine weiteren Probleme. Am wichtigsten scheint mit Rückblick auf Paris 2024 jedoch, dass die Diskussion nicht den sozialen Netzwerken überlassen wird. Denn dabei gibt es nur Verlierer.