Nach knapp 20 Jahren steht Box-Legende Mike Tyson wieder im Ring. Und verliert gegen den 27-jährigen Jake Paul. Merkt da einer nicht, wann seine Zeit vorbei ist? Im Gegenteil.
Auf einem grünen Lowrider lässt sich Jake Paul im Schritttempo in das ausverkaufte AT&T-Stadium fahren. Es läuft Phil Colins. "I can feel it coming in the air tonight." Er ist in einem silbernen Pailletten-Jäckchen gekleidet. Dagegen wirkt Mike Tyson fast demütig, wie er einläuft, in seinem schwarzen Leibchen. Auf seinen eigenen Füßen. Vielleicht hat das Kleingeld für eine Limo gefehlt?
Mike Tyson sagt gleich zu Beginn der dreiteiligen Netflix-Doku zum Boxkampf, dass er extra aufgehört habe, Gras zu rauchen und auch keine Magic Mushrooms mehr nehme, um sich auf die acht Runden im Ring vorzubereiten. Wenn das keine Hingabe ist. Knapp 20 Jahre hat der "baddest man on earth" nicht mehr gekämpft. Warum ändert er das jetzt? Keine Ahnung. So richtig scheint er selbst das auch nicht zu wissen.
In der Dokumentation sagte er zum Beispiel: "Wenn ich gewinne, werde ich unsterblich." Einer Kinderreporterin sagte er hingegen, er könne mit dem Konzept "Legacy" nichts anfangen. "Ich werde sterben, dann ist es vorbei." Und: "Wir sind Staub, wir sind nichts, unsere 'Legacy' bedeutet nichts." Ja, er wolle nicht einmal erinnert werden, wenn er tot ist. Die Kinderreporterin machte große Augen.
Die Runden dauern zwei statt drei Minuten
Jedenfalls stehen sie sich jetzt gegenüber an diesem 15. November. Jake Paul und Mike Tyson. Ein 27-Jähriger gegen einen 58-Jährigen. Sie standen sich um genau zu sein in der vergangenen Woche fast ununterbrochen gegenüber. Mal auf einem Hochhausdach, mal mit Klamotten, einmal auch in Schlüpfern. Dabei hat Tyson ausgeholt und Jake Paul eine aufgestrichen. The problem child", wie er sich gerne nennt, ist dem Iron-Mike auf den Fuß getreten, was den Schlag möglicherweise zu einer Art "Erziehungsschelle" machte. Wobei Tyson eigentlich nicht so wirkt, als habe er einen pädagogischen Auftrag. Paul brüllt daraufhin ins Mikrofon: "It's personal now, he must die." Es ist persönlich, jetzt muss er sterben. Nun.
72.300 Zuschauer haben sich im Dallas Cowboys Stadion in Arlington, Texas eingefunden. Allein die Tickets sollen 60 Millionen Dollar reingespült haben. Der Kampf läuft als erstes Boxevent live auf Netflix. Geld, das Jake Paul zumindest zu Teilen direkt in sein Outfit gesteckt hat: Sein diamantenbesetztes Höschen soll mehrere Millionen gekostet haben und ist nach eigenen Aussagen das teuerste, das je im Ring getragen wurde. Um Iron-Mikes Alter Rechnung zu tragen, kämpfen die beiden mit größeren und dicker gepolsterten Handschuhen als gewöhnlich und auch die Runden dauern nur zwei statt drei Minuten.
Jake Paul und Mike Tyson steigen in den Ring
Der Kampf geht los. Paul hüpft von einem Bein auf das andere, Tyson wackelt hinterher. Dann hängt der Stream. Immer wieder fliegt man aus der Übertragung, das Bild wird grisselig. Ein wenig entsteht so das Gefühl, als sei man ein Zeitreisender und sehe einen von Tysons legendären Kämpfen aus den 80ern. Das liegt aber vor allem daran, dass man gar nichts sieht und sich alles vorstellen kann. Immerhin hat man so die Gelegenheit für ein paar Gedanken.
Bei all den Superlativen, die dieser Abend mitbringt, haben sich erwartbarerweise schon einige Miesepeter gemeldet. Es gehe ja gar nicht um den Sport, sagen sie. Allein weil Jake Paul ursprünglich Youtuber war, weil er Millionen von Followern auf seinen Social Media Accounts hat, weil er eben kein klassischer Boxer sei. Als er beispielsweise 2023 gegen den mittelmäßigen Boxer Tommy Fury antrat, verlor er nach Punkten. Stimmt also schon. Dafür hat Jake "El Gallo" Paul immerhin in seinen elf Kämpfen zehn Siege abgeräumt. Acht davon durch Knock-Outs.
Aber eigentlich kann es doch gar nicht klassischer zugehen, als an diesem Abend. Die penisonierte Boxlegende steigt gegen den jungen, verrückten Herausforderer in den Ring. Wenn das kein Stoff für eine klassische amerikanische Geschichte ist.
Zumal die beiden Kämpfer so überzeichnet sind, als stammten sie aus einem Zeichentrickfilm. Da ist Mike Tyson, der Mann, der 44 seiner Kämpfe durch einen Knock-Out gewann, der mit einem Löwen gelebt hat, der mit einem Tiger gelebt hat, der Tauben züchtet und wegen Vergewaltigung drei Jahre in Haft saß. Und dort Jake Paul, der seine Frisur seltsamerweise gelegentlich zu einem Hahn stylt, wofür er sich einen Vogelkopf anklebt, der ein sogenanntes Internetphänomen ist, der sich selbst als Philanthrop bezeichnet, dem allerdings einige Frauen sexuelle Übergriffe vorwerfen und der – vorsichtig ausgedrückt – ein Corona-Skeptiker ist.
Immer wenn der Stream kurz funktioniert, sagen die Moderatoren Sätze wie: "Ich mag Tysons Beinarbeit gar nicht." Oder: "Er ist ein erwachsener Mann, er trifft seine eigenen Entscheidungen und kennt die Konsequenzen, die so ein Kampf haben kann." Was angesichts der Tatsache, dass der Kampf ursprünglich schon für Juli angesetzt war, aber verschoben werden musste, weil Tyson einen Schwächeanfall erlitt und ein Magengeschwür zu bluten begann, etwas beunruhigend klingt. Und dann sieht man Tyson durch den Ring schlurfen, wie ein 58-Jähriger nun mal schlurft. Im Vergleich zu dem Jungspund Paul wirkt das eher mechanisch. Paul prügelt auf Tyson ein, der nur seinen coolen Blick entgegenzusetzen hat, der seine Coolness offen gestanden auch nur seinem Gesichtstattoo zu verdanken hat. "Der Blick auf die Statistik macht einen traurig", sagt einer der Moderatoren. Aber mal ehrlich: Mit welchen Erwartungen muss man in den Kampf gegangen sein, um deshalb in Trauer zu verfallen?
Da könnten sich manche was abschauen
Am Ende, das überrascht niemanden, gewinnt Jake Paul den Kampf.
Aber nicht nur. Denn wie die beiden sich nach den acht Runden im Ring umarmen, ist vor allem rührend. Gerade wenn man bedenkt, was für eigentümliche Machtkämpfe man über die Jahre zwischen jüngeren und älteren Männern beobachten musste. Auch heute stand zu befürchten, dass Tyson mit einem Kohlebagger sein sportliches Lebenswerk abträgt, weil er nicht wahrhaben will, dass seine Zeit vorüber ist. Aber das hat er nicht. Ist das nicht auch ein schönes Bild, wie respektvoll man miteinander umgehen kann, auch wenn man sich über 16 Minuten gegenseitig Schlag um Schlag in die ramponierten Gesichter gezimmert hat?
Vielleicht waren die Sätze, die Mike Tyson der Kinderreporterin gesagt hat, am Ende gar nicht so verstörend, wie sie im ersten Moment klangen. Möglicherweise hat da jemand wirklich etwas begriffen. Es ist schon ok, wenn etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Und damit hätte Iron-Mike doch einen kleinen pädagogischen Auftrag erfüllt.
Irgendwie hofft man, dass sich hier einige Männer etwas abschauen.