Experten wie israelische Medien sind sich weitgehend einig: Mit den Pager-Explosionen stellt Israel seine Fähigkeiten eindrücklich unter Beweis. Für die Hisbollah ist der Angriff indes erniedrigend und wird wohl eine Gegenreaktion nach sich ziehen. Die Gefahr eines offenen Krieges nimmt zu.
In der zeitgleich herbeigeführten Explosion von Hunderten Pagern im Libanon sehen Experten eine Machtdemonstration Israels, auch wenn sich die Regierung in Jerusalem nicht offiziell dazu bekannt hat. Für die Hisbollah-Miliz ist es hingegen eine Demütigung, denn sie legt eklatante Sicherheitsschwächen der Miliz offen. Dabei hat die Organisation eigentlich den Ruf, eine der stärksten anti-israelischen Kräfte im Nahen Osten zu sein.
"Diese Operation ist im Grunde der 7. Oktober der Hisbollah", zitiert die "New York Times" den Politikwissenschaftler Mohanad Hage Ali vom Carnegie Middle East Center in Beirut. Er bezieht sich damit auf das Versagen des israelischen Sicherheitsapparats, infolgedessen die Hamas ihren groß angelegten Terrorangriff im vergangenen Jahr durchführen konnte. Die Pager-Explosion mit mindestens zwölf Toten und bis zu 2800 Verletzten sei "ein gewaltiger Schlag".
Seit dem 7. Oktober liefern sich Israel und die Hisbollah Gefechte entlang ihrer Grenze. "Und jetzt trifft dieser Schlag die Basis der Organisation", sagte Hage Ali. "Es ist wie ein Schwert, das tief in den Körper der Organisation gestochen wurde, und es wird einige Zeit dauern, bis sie davon geheilt ist."
Die israelische Zeitung "Jerusalem Post" wertet den Angriff als großen Erfolg im Kampf gegen die Hisbollah, ohne Israel ausdrücklich die Verantwortung zuzuschreiben. "Wenn es Israel ist, dann ist das etwas, worauf wir sehr stolz sein sollten, denn es wirft ein unglaublich gutes Licht auf die Sicherheitssysteme, die wir als allen anderen auf der Welt überlegen angepriesen haben", schreibt die konservativ-liberal ausgerichtete Zeitung.
"Bleibt nicht unbeantwortet"
Auch die liberale Zeitung "Haaretz" spricht von einem "beeindruckenden" operativen Erfolg. Dem Blatt zufolge haben die Pager-Explosionen die Hisbollah gedemütigt. Die Organisation werde vermutlich viel Zeit investieren müssen, um Sicherheitslücken auszumachen und zu stopfen. Allerdings rechnet das Blatt mit einem Gegenschlag der schiitischen Miliz. "Solche Dinge bleiben im Nahen Osten normalerweise nicht unbeantwortet."
Offen ist, wie diese Antwort ausfallen wird. Die Hisbollah steckt Experten zufolge in einem Zwiespalt: Sie wird vermutlich reagieren, um ihr Gesicht zu wahren, will jedoch einen offenen Krieg mit Israel vermeiden. Dabei kommt es wohl auch auf die Basis der Miliz an. Der Angriff "wird auch die Müdigkeit und den Überdruss in der Hisbollah-Wählerschaft verstärken", sagte Randa Slim vom Middle East Institute in Washington der "New York Times". "Andererseits könnte es die Forderung innerhalb der Wählerschaft erhöhen, dass die Hisbollah hart zurückschlägt."
Gründe hinter der Massenexplosion
Welchen Grund hatte Israel also, die Pager mutmaßlich zu zünden? Eine Vermutung ist, dass der Zeitpunkt mit den israelischen Kriegszielen zusammenhängt: Einen Tag vor den Explosionen hatte das israelische Kriegskabinett erklärt, Zehntausende aus dem Norden evakuierte Israelis zurück in ihre Heimat bringen zu wollen - also in das Gebiet, dass unter andauerndem Beschuss aus dem Libanon steht. Bereits zuvor hatten Berichte israelischer Medien nahegelegt, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine verstärkte Offensive im Libanon befürwortet.
Die Zeitung "Haaretz" warnt vor einer weiteren Eskalation. "Zu einer Zeit, als (Ministerpräsident Benjamin) Netanjahu der israelischen Öffentlichkeit bis vor nicht allzu langer Zeit versprach, dass wir nur noch einen kleinen Schritt vom totalen Sieg über die Hamas entfernt seien, scheinen wir nun auch einem groß angelegten Krieg mit der Hisbollah näher denn je. Der Sieg an allen Fronten ist noch immer nicht in Sicht."
Zugleich ist unklar, ob die israelische Armee in der Lage ist, einen offenen Krieg in Gaza und parallel im Libanon zu führen. "Ich denke, diese Art von Operation soll eine Art Alarm oder Abschreckung auslösen", zitiert CNN den ehemaligen israelischen Marinekommandeur Eyal Pinko. Israels Botschaft sei: "Wir sind in euch eingedrungen, ihr seid bereits infiltriert worden, wir wissen, wo ihr seid, was ihr tut, und seht, was wir mit einem einzigen Schuss anrichten können."
Bemerkte Hisbollah Sabotage?
Eine weitere Theorie ist, dass die Hisbollah dem Komplott auf die Schliche gekommen war. Nach Informationen von US-Vertretern hatte der israelische Geheimdienst die Pager in einer aufwendigen Aktion sabotiert, die vermutlich Monate bis Jahre der Vorbereitung in Anspruch genommen hatte. Die Regierung in Jerusalem habe womöglich beschlossen, den Abzug zu betätigen, um die Fähigkeit zum Angriff nicht ganz zu verlieren, berichten US-Medien.
Auffällig ist laut "Haaretz" zudem die zeitliche Nähe der Pager-Explosionen zu einem innenpolitischen Konflikt in Israel. Ministerpräsident Netanjahu stand offenbar kurz davor, seinen Verteidigungsminister Joaw Galant, mit dem er seit längerem über das Vorgehen im Gaza-Krieg streitet, zu ersetzen. An seine Stelle sollte ein ehemaliger Rivale des Premiers, Gideon Sa'ar, treten. Diese Pläne liegen demnach nun auf Eis, bis geklärt ist, ob es tatsächlich zu einem Krieg im Norden des Landes kommt.
Der Zeitung zufolge kommt der Zeitpunkt des Angriffs Netanjahu zumindest gelegen. Sa'ar, der einst nach einer gescheiterten Kandidatur zum Vorsitzenden aus Netanjahus Likud-Partei ausgetreten war, bleibe geschwächt an seinem Platz. In der Öffentlichkeit stehe er jetzt als jemand dar, "der bereit ist, den Rest seiner Integrität für einen Job zu verkaufen". Galant dagegen sei als jemand entlarvt worden, der keine eigene politische Basis hat und von Netanjahu ersetzt werden kann.