2 days ago

Meinung: Warum das Einkaufswagen-Problem die Wahl (mit)entscheiden könnte



Wachstum, Wachstum, Wachstum: Fast alle Parteien setzen im Wahlkampf darauf, dass die Wirtschaft wieder anspringt. Dabei haben Otto-Normal-Verbraucher noch ganz andere Sorgen.

140. 140 Euro, das ist diese magische Zahl, die seit einigen Monaten auf dem Display der Kasse erscheint, wenn bei Kaufland alle meine Einkäufe übers Band gelaufen sind. Ich zucke dann immer die Schultern, sage "Oh, das hat sich heute mal wieder gelohnt". Die Kassiererin lächelt etwas mitleidig, zuweilen gibt’s eine Portion Berliner Schnauze dazu. Dann lege ich meine EC-Karte ans Lesegerät und packe meinen Hackenporsche voll.

Mindestens zweimal in der Woche geht das so, und darin sind noch nicht die Kosten für Obst, Gemüse und sonstige kleine Einkäufe im Laden um die Ecke enthalten. Okay: Wir haben vier Kinder. Ein Teil der Kostensteigerung geht darauf zurück, dass die Kleinsten jetzt mehr essen. 

Aber noch vor wenigen Jahren hat dieser Einkauf keine 100 Euro gekostet, 40 Euro weniger. Und kombiniert mit den steigenden Energiepreisen und den Beiträgen zur Krankenversicherung wird mir so langsam etwas mulmig. Ich verdiene zusammen mit meiner Frau okay, aber angesichts der Familiengröße würde ich uns irgendwo unterhalb der Mitte einordnen. Immerhin zahle ich nur eine kleine monatliche Rate für meine Wohnung ab – müsste ich hier in Berlin eine Wohnung für diese ganze Horde mieten, wäre ich pleite. Und mit diesem mulmigen Gefühl bin ich nicht allein.

Die Makro-Zahlen reichen nicht aus

In den Monaten vor der Präsidentschaftswahl in den USA las ich einen einleuchtenden Text in der "New York Times" (NYT), der auf eine Fehlwahrnehmung des politischen Establishments hinwies: Makroökonomisch gesehen, schrieb der Autor, wachse die Wirtschaft der USA ja. 2023 waren das 2,5 Prozent, im letzten Jahr wohl noch mehr. Das Team von Joe Biden wunderte sich derweil, warum Donald Trump in der Wählerschaft mit seiner Botschaft vom angeblichen Niedergang Amerikas gut ankam. 

Der Schlüssel, so schrieb der NYT-Autor, habe im Unterschied zwischen der Makro- und der Mikroebene gelegen. Kurz gesagt: Während Biden vom Wachstum der Wirtschaft erzählte, erlebten viele Menschen, besonders jene unterhalb der oberen Mittelschicht, an der Kasse von Walmart oder McDonald’s Tag für Tag ähnliches wie ich. 

Analyse Parteien Aschaffenburg

Wir leben zum Glück in keiner Planwirtschaft, in der das Politbüro die Butterpreise dekretieren kann. Und ja, ich verstehe, dass ein Teil der Mehrkosten, die wir jetzt zu zahlen haben, der Preis der Freiheit ist: Würden wir Wladimir Putin die Ukraine zum Fraß vorwerfen, könnten wir am nächsten Tag wieder günstiges russisches Gas beziehen. Dann würden die Preise sinken und, vielleicht, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie auch wieder steigen.

Ich bin auch bereit, diesen Preis zu zahlen, weil ich als Ukraine-Reporter aus eigener Anschauung weiß, welchen ungleich höheren Preis meine ukrainischen Freunde jeden Tag dafür zahlen. Und Brechts "Erst kommt das Fressen – und dann die Moral" trifft auf Deutschland auch nicht zu – die Unterstützung für die Ukraine und die Ukrainer ist auf allen Ebenen noch immer groß. 

Wahlkampftaktisch liegt Scholz wohl nicht so falsch

Aber – so ehrlich muss man sein – nicht für jeden Deutschen steht das Schicksal der Ukraine ganz oben in der Prioritätenliste. Das trifft umso mehr auf die vielen Menschen zu, bei denen das Geld noch deutlich knapper ist als bei mir. 

Wahlkampftaktisch ist es wahrscheinlich gar nicht so falsch, wenn OIaf Scholz, der Kanzler, bei einem neuen 3-Milliarden-Paket für die Ukraine erstmal auf die Bremse tritt. Die Menschen in Deutschland wollen drei Jahre nach Kriegsbeginn schon genau wissen, wofür und mit welchem Sinn das Geld ausgegeben wird. Drei Milliarden mögen Menschen in der Berliner Politikblase leicht über die Lippen kommen. Aber das sind 3.000.000.000 Euro. Und die kann der Staat eben so oder so ausgeben. 

Drei Milliarden Euro 8:02

Die kommende Bundesregierung sollte deshalb bei allem, was sie tut, ganz oben auf die Prioritätenliste setzen, die Kosten des Einkaufswagens für den Otto-Normalverbraucher zumindest nicht in diesem Tempo weiter steigen zu lassen. Populisten aus allen Himmelsrichtungen nutzen gekonnt das subjektive Empfinden der Menschen, wenn sie im Wahlkampf sagen: "Die da oben wissen doch gar nicht mehr, wie es ist, an der Kasse zu stehen, und das Geld reicht nicht mehr für den Einkauf." 

Es ist zu hoffen, dass dieses Land in den nächsten vier Jahren überhaupt wieder aus der Stagnation kommt. Aber – das Beispiel Biden hat das gezeigt – reine Makro-Zahlen reichen eben nicht aus. Wer die Populisten in die Schranken weisen will, muss dafür sorgen, dass auf dem Kassen-Display meines Supermarkts in vier Jahren nicht die Zahl 180 erscheint. 

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