Mehr als die Hälfte der Deutschen hat Friedrich Merz und seine Regierung schon abgeschrieben, bevor diese überhaupt im Amt sind. Das ist nicht nur unfair, sondern auch dumm.
Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie schwimmen lernten? Wie das Wasser Sie zunächst nicht zu tragen schien? Wie Sie dann die richtigen Arm- und Beinbewegungen übten, mehrfach ins Wasser gingen, erst am Rand, dann ins Tiefe, und plötzlich klappte es?
Wie hätten Sie es umgekehrt gefunden, wenn Sie jemand ins Wasser gestoßen und von Ihnen erwartet hätte, dass Sie auf Anhieb schwimmen können? Mit der Begründung, dass "das Wasser ja schon da ist"?
100 Tage Schonfrist in der "Todeszone"
Womit wir bei der neuen Regierung wären. Es zählt zu den politischen Gepflogenheiten, dass einem neuen Kanzler eine Karenzzeit von 100 Tage gegeben wird, bevor man seine Arbeit beurteilt.
100 Tage, in denen er (oder sie) sich einfinden kann in jenes Amt, das von Joschka Fischer mal als "Todeszone" bezeichnet wurde. 100 Tage, in denen er die Dynamiken der Führung eines Landes kennenlernen und sein Kabinett danach ausrichten kann.
Friedrich Merz erlebt gerade ein Paradox. Nicht nur, dass ihm diese 100 Tage offenbar nicht zugestanden werden. Im Gegenteil: Über seine Regierung wurde schon VOR ihrem Amtsantritt ein vernichtendes Urteil gefällt. Also, zu einem Zeitpunkt, als sie noch keinen einzigen Tag regiert hatte.
Mehr als die Hälfte der Deutschen glaubt laut Trendbarometer von RTL/ntv, dass Merz nicht fürs Kanzleramt geeignet ist. Ebenfalls die Mehrheit ist überzeugt, dass er nicht besser abschneiden wird als sein glückloser Vorgänger Olaf Scholz. Noch nie ist ein Regierungschef mit schlechteren Werten gestartet.
Politik ist ein Langstreckenlauf
Korrekt ist, dass die Weltlage keine Schonfrist erlaubt. Angesichts des weiter tobenden Krieges in der Ukraine, eines vollkommen erratischen US-Präsidenten und eines zerfallenden Europas braucht es jemanden, der außenpolitisch einen klaren Plan hat. Das gilt aber nicht gleichermaßen für die Innenpolitik. Auch wenn hier die Baustellen ebenfalls riesig sind – schwächelnde Wirtschaft, Bürokratie-Wahnsinn, Erstarken der Rechten –, sind dies alles keine Themen, die sich in 50 Tagen lösen lassen, noch in dieser Zeitspanne gelöst werden müssten. Es ist vielmehr, wie man in der Politik so gern bildlich sagt, ein Langstreckenlauf.
Mag sein, dass Friedrich Merz auch durch seine eigene Schuld Zweifel schürte, ob er den Aufgaben gewachsen ist. Etwa durch seine hastig angesetzte Asylabstimmung, die vor allem aufs Konto der AfD einzahlte. Oder seine anfängliche Ignoranz, dass er für seine Schuldenbremsen-Wende anders mit den Grünen umgehen muss, weil er für die nötige Verfassungsänderung auf ihre Stimmen angewiesen ist.
Aber in der Vergangenheit hat Merz, trotz seines fortgeschrittenen Alters, durchaus Lernfähigkeit bewiesen. Zum Beispiel bei seiner Kandidatur für den Parteivorsitz, als er nach zweimaligem Scheitern seine Strategie anpasste und seine persönliche Eitelkeit in den Griff bekam.
Auch bei der Aufstellung der CDU-Riege für das Kabinett zeigt er eine ungewohnte Seite: Merz hat seine Mannschaft gegen jeden Regionalproporz besetzt und damit riskiert, den einen oder anderen Landesverband vor den Kopf zu stoßen. Ob das klug war, wird sich zeigen. Aber eines war es nicht: mutlos.
Merz ist für Überraschungen gut
Auch wartet er, bislang nicht eben als Frauen-Förderer bekannt, am Ende doch mit mehr Frauen im Kabinett auf als zunächst angenommen.
Auch als Kanzler könnte Merz deshalb für die eine oder andere Überraschung gut sein. Natürlich wird er in den ersten Wochen den einen oder anderen Fehler machen. So wie jeder Kanzler und jede Kanzlerin vor ihm.
Es wäre nicht nur unfair, sondern auch dumm, ihn bereits jetzt abzuschreiben. Wer dies tut, macht sich zum Büttel der Rechtspopulisten und ihres Dauergesangs, dass dieses Land auf alle Fälle dem Untergang geweiht ist.
Merz und seine Mannschaft haben 100 Tage verdient. Dann kann man immer noch urteilen, ob sie schwimmen gelernt haben.