Der CDU-Chef beruft sich auf sein Gewissen, als er erstmals eine Mehrheit mit der AfD herbeiführt. Das kann die Wahl entscheiden. Aber für wen?
Nein, die Republik ist jetzt nicht auf einen Schlag eine andere geworden. Nein, CDU/CSU haben nicht die Demokratie oder das Andenken an die Opfer des Holocaust mit Füßen getreten. Solche Sprüche sind aufgeheiztes Moral-Gebläse von SPD und Grünen - im Wahlkampf ein legitimes Mittel, aber der Untergang des Abendlandes wird auch dieses Mal ausfallen. CDU/CSU, FDP, AfD und ein paar versprengte Ex-AfDler haben einem Antrag eine Mehrheit verschafft, der weder gesetzgeberische Folgen hat noch eine bindende Handlungsanweisung für die Regierung darstellt. Es ist eine aberwitzige Unterstellung, Merz plane nun, nach der Wahl eine Koalition mit der AfD einzugehen.
Lassen wir die Kirche im Dorf. Es ist ein politisches Statement. Aber was für eines.
Denn es wird eine stilprägende Abwägung, die jeder Wähler nun vollziehen kann (und sollte). Erstens: Friederich Merz hält sich nicht an sein gegebenes Wort. Er hatte erklärt, dass er keine "Zufalls-Mehrheiten" mit der AfD riskieren oder herbeiführen werde. Merz bricht dieses Wort, heute ein wenig, indem er (auch) die AfD eine Mehrheit für die symbolhaften Anträge zustande bringen lässt. Am Freitag kommt es vermutlich noch gravierender, weil es dann um ein veritables Bundesgesetz geht. Das hat zwar keinen revolutionären Inhalt, aber es wäre das erste seit der Gründung der Bundesrepublik, das nur zustande käme, weil die in Teilen rechtsextreme AfD mitstimmt.
Normalerweise, nach normalen Kriterien ist Wortbruch ein schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit eines Politikers: ‚Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht‘, sagt - Achtung - der Volksmund. Das ist ernst zu nehmen. Etliche Minister bis hin zu einem Bundespräsidenten sind über Wortbrüche gestürzt.
Anders als Laschets Lachen
Aber, zweitens: Friedrich Merz tut, was er tut, weder aus Versehen, noch tut er es klammheimlich: Er verschleiert nichts, sondern nennt, was er tut, klar beim Namen. Er hat heute sein Wort zurückgenommen und sich auf sein Gewissen berufen. Höher kann man kaum greifen, zumal an einem wirklich entscheidenden Moment des Wahlkampfes. Daraus kann alles werden, aber es nicht das unselige Zufalls-Lachen Armin Laschets von 2021.
Aber geht das überhaupt? Sich beim Wort brechen ehrlich machen? Und wenn es geht: Kommt das beim Wähler an, das heißt bei jenen rund fünf Prozent der Wähler, die Friedrich Merz und seine CDU/CSU so dringend für einen halbwegs beeindruckenden Wahlsieg dringend brauchen? Ist ihnen die Ankündigung (!) einer "Asyl-Wende" wichtiger als ein eingeräumter Wortbruch? Das ist offen. Das ist das "Experiment".
Oder ist das alles nur eitles Geblubber in der "Berliner Blase". Nein, ist es nicht. Glaubwürdigkeit ist und bleibt eine zentrale Währung für Politiker, weil es für den Wähler ein seriös gangbarer Weg der Komplexitätsreduktion ist. Anstatt alle Details und Verästelungen der zahllosen Sachprobleme selber zu verstehen und zu beurteilen, wählt der Bürger den aus, dem er traut. Dem er vertrauen will. "Sie kennen mich", sagte Angela Merkel und gewann eine Bundestagswahl mit genau diesem Mechanismus.
Doch einiges spricht dafür, dass die Zeiten inzwischen andere sind – und Friedrich Merz setzt darauf. Einer seiner stärksten Rede-Momente war, als er der Kanzler-Ermahnung, man müsse sich an Recht und Gesetz halten, einfach entgegnete: Man kann alle Gesetze ändern. Und vielleicht kann man mit dem Plazet einer gesellschaftlichen Mehrheit sogar mehr: nämlich einfach etwas ankündigen und versuchen, ohne zu wissen, ob es vollständig funktioniert. Zum Beispiel möglichst alle Asylsuchende und Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückweisen, wenn sie aus einem anderen EU-Staat kommen. Im Grundgesetz steht das ja.
Geifernde AfD an der Seitenlinie
Ein solches Manöver hätte eindeutig erhebliche Risiken und Nebenwirkungen sowie ein offenes Ende. Nationale oder EU-Gerichte könnten es stoppen. Die kleinen Nachbarstaaten könnten Front gegen Deutschland machen, aber auch Italien und Griechenland, die wie 2014 wieder mit den Flüchtlingen allein gelassen würden. All‘ das sind mögliche Schäden, aber dass sie eintreten, ist nicht sicher. Sicher ist für Friedrich Merz nur: Diese Risiken sind nicht groß genug, als dass man mit ihnen die politischen Risiken des "Nichtstuns" rechtfertigen könnte.
Denn das ist auch ein Fazit dieser denkwürdigen Bundestagsdebatte: Der Bundeskanzler hat empört erklärt, was Friedrich Merz alles nicht tun sollte oder aus tausend Gründen nicht tun dürfe. Was er selber tun will, außer zu warten, hat Olaf Scholz nicht gesagt. Das ist in so einer Lage, mit der geifernden AfD an der Seitenlinie, skandalös wenig. Es zieht die Kanzlertauglichkeit von Olaf Scholz weitaus mehr in Zweifel, als dass sein zurückgenommenes Wort Friedrich Merz‘ Kanzlertauglichkeit in Zweifel zieht.