Die Israelis haben traurige Gewissheit: sechs weitere Geiseln der Hamas sind ermordet worden. Wut und Verzweiflung treibt Zehntausende auf die Straße. Zudem soll ein Generalstreik Regierungschef Netanjahu "wachrütteln", damit er die verbliebenen Geiseln nach Hause holt.
In Israel wächst der Druck auf die Regierung für ein Abkommen mit der Hamas, nachdem sechs weitere tote Geiseln aus dem Gazastreifen geborgen wurden. Israels größter Gewerkschaftsverband Histadrut rief für Montag einen Generalstreik zur Unterstützung der noch lebenden Geiseln im Gazastreifen aus, Angehörige der Verschleppten und Oppositionsführer Jair Lapid riefen zu Protesten auf. Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich erschüttert über den Fund der getöteten Geiseln. Derweil beteiligten sich Zehntausende Menschen an einer Protestaktion in Tel Aviv – sie fordern, dass die Regierung die Freilassung der übrigen Geiseln erwirkt. Auch in weiteren Städten demonstrierten Menschen.
"Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass nur unser Eingreifen diejenigen wachrütteln kann, die wachgerüttelt werden müssen", erklärte Histadrut-Chef Arnon Bar David mit Blick auf die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Dieser wird vorgeworfen, ein Abkommen mit der islamistischen Hamas über die Freilassung der Geiseln mit immer neuen Forderungen zu verhindern. Ab Montagmorgen um sechs Uhr werde "die gesamte israelische Wirtschaft in einen vollständigen Streik treten", schrieb der Gewerkschaftschef.
Zuvor hatte bereits das Forum der Geisel-Angehörigen zum Generalstreik aufgerufen und an die Gewerkschaften appelliert, sich dem anzuschließen. Damit solle die Regierung dazu gebracht werden, unverzüglich ein Abkommen zur Freilassung der noch lebenden Geiseln zu schließen, erklärte das Forum der Familien der Geiseln und Vermissten. Oppositionsführer Jair Lapid schloss sich den Forderungen an.
Minister: Müssen Entscheidung rückgängig machen
Auch Verteidigungsminister Joav Gallant fand klare Worte: Das Kabinett müsse eine am Donnerstag getroffene Entscheidung zur andauernden israelischen Militärpräsenz im Philadelphi-Korridor "zurückzunehmen", forderte er. Das Gebiet entlang der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten ist einer der zentralen Streitpunkte in den Verhandlungen über eine Feuerpause.
Fast elf Monate nach dem Überfall der radikalislamischen Hamas auf Israel hatte die israelische Armee am Samstag in einem Tunnel bei Rafah im Süden des Gazastreifens die Leichen von sechs Geiseln gefunden. Fünf von ihnen waren bei dem Hamas-Großangriff am 7. Oktober auf das Nova-Musikfestival im Süden Israels entführt worden, eine der nun tot geborgenen jungen Frauen war aus dem Kibbuz Beeri verschleppt worden.
Unter den Toten war auch der israelisch-amerikanische Doppelstaatler Hersh Goldberg-Polin. Die Eltern des 23-Jährigen hatten kürzlich beim Parteitag der US-Demokraten an das Schicksal ihres Sohnes erinnert.
Zehntausende protestieren in Tel Aviv
Nach dem Fund der sechs Leichen nahmen Zehntausende Israelis an einer Protestkundgebung in Tel Aviv teil. Zahlreiche Demonstranten marschierten mit blau-weißen Nationalflaggen auf zentralen Straßen der Stadt am Mittelmeer. Auf einer Bühne waren symbolisch die Särge der sechs Geiseln aufgebahrt. In Tel Aviv blockierten Demonstranten eine zentrale Schnellstraße. Auch in anderen Städten kam es zu Protestaktionen. In Jerusalem blockieren Demonstranten Straßen und protestieren vor der Residenz Netanjahus. Luftaufnahmen zeigen, wie die Hauptautobahn von Tel Aviv von Demonstranten blockiert wird. Manche halten Bilder der getöteten Geiseln hoch.
Die Demonstranten forderten von der Regierung einen raschen Deal über eine Waffenruhe im Gaza-Krieg und die Freilassung der verbliebenen Geiseln in der Gewalt der Hamas im Gegenzug für palästinensische Häftlinge. Die indirekten Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas, bei denen neben den USA auch Katar und Ägypten vermitteln, kommen seit Monaten nicht von der Stelle."Wir werden sie nicht im Stich lassen", skandierten die Demonstranten in Tel Aviv mit Blick auf das Schicksal der Geiseln.
Geiseln aus "nächster Nähe" erschossen
Das israelische Gesundheitsministerium gab am Sonntagabend die ersten Ergebnisse einer rechtsmedizinischen Untersuchung der Leichen der Geiseln bekannt. Die sechs Männer und Frauen seien "ungefähr 48 bis 72 Stunden" vor ihrer Untersuchung "von Hamas-Terroristen mit mehreren aus nächster Nähe abgefeuerten Schüssen ermordet worden", erklärte eine Sprecherin.
Aus Hamas-Kreisen verlautete am Sonntag, Goldberg-Polins Name habe auf einer "von der Hamas bestätigten Liste" von Geiseln gestanden, die im Falle einer Waffenruhe mit Israel gegen palästinensische Häftlinge ausgetauscht werden sollten. Israelische Medienberichten zufolge sollten insgesamt drei der jetzt tot gefundenen Geiseln im Falle eines Abkommens freikommen.
Kritiker werfen dem israelischen Regierungschef Netanjahu vor, den Krieg im Gazastreifen aus politischen Gründen in die Länge zu ziehen. In einem Gespräch mit den Eltern der tot gefundenen Hamas-Geisel Alexander Lobanov am Sonntag bat Netanjahu um "Vergebung (...), dass es mir nicht gelungen ist, Sascha lebend zurückzubringen".
Scholz: Verspüren Trauer und Wut
Bundeskanzler Scholz schrieb im Onlinedienst X: "Die Nachricht von sechs tot geborgenen Geiseln im Gaza-Streifen erfüllt uns mit Trauer und Wut." Scholz erklärte weiter, "Hamas-Terroristen" trügen "die Verantwortung für den Tod dieser Frauen und Männer, von denen eine einen Deutschland-Bezug hat". Die getötete Geisel Carmel Gat ist die Schwägerin der im November aus der Hamas-Geiselhaft freigekommenen Deutsch-Israelin Yarden Roman-Gat.
Bei einem Großangriff auf zahlreiche Orte im Süden Israels hatten Hamas-Kämpfer am 7. Oktober nach israelischen Angaben 1205 Menschen getötet und 251 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Knapp elf Monate später befinden sich nach jüngsten israelischen Angaben noch immer 97 Geiseln in der Gewalt der Hamas und anderer militanter Palästinensergruppen, 33 von ihnen sind demnach tot. Als Reaktion auf den Hamas-Angriff geht Israel massiv militärisch im Gazastreifen vor.
Nach Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden dabei seit Oktober mehr als 40.700 Menschen getötet. Seit Monaten bemühen sich die Vermittler USA, Katar und Ägypten vergeblich um ein Abkommen zwischen Israel und der Hamas über eine Feuerpause und die Freilassung der Geiseln.