Die ukrainische Truppe steht vor etlichen Problemen. Eines davon: Neu eingezogene Soldaten sollen schlecht vorbereitet seien, manche seien zögerlich. "Sie sehen den Feind in Schussposition im Schützengraben und eröffnen nicht das Feuer. Deshalb sterben unsere Männer", sagt ein Bataillonsführer.
Manche weigern sich, auf Gegner zu schießen, andere haben Schwierigkeiten mit grundlegenden Kampftechniken oder lassen sogar ihre Posten im Stich: Das berichten Befehlshaber und Kameraden über neue ukrainische Soldaten. Während die Ukraine ihren Vormarsch in die russische Region Kursk fortsetzt, verlieren ihre Truppen an der Ostfront des Landes weiter an Boden. Kommandeure führen das zum Teil auf die schlechte Ausbildung zuletzt rekrutierter Soldaten zurück sowie auf die klare Überlegenheit Russlands in der Luft und bei der Munition.
"Manche Leute wollen nicht schießen. Sie sehen den Feind in Schussposition im Schützengraben und eröffnen nicht das Feuer. Deshalb sterben unsere Männer", sagt ein Bataillonsführer der 47. Brigade frustriert. "Wenn sie die Waffe nicht benutzen, sind sie wirkungslos." Die Befehlshaber und Soldaten äußerten sich anonym, um frei über sensible militärische Angelegenheiten sprechen zu können. Andere wollten lediglich ihren Rufnamen nennen.
Kommandeure machten die jüngsten Rekruten unter anderem für Gebietsverluste nahe der Stadt Pokrowsk verantwortlich, die ein wichtiges logistisches Drehkreuz bildet. Ein Verlust der Stadt würde die ukrainische Verteidigung gefährden und Russland seinem erklärten Ziel näherbringen, die Region Donezk einzunehmen. Aktuell sind die russischen Streitkräfte nur noch zehn Kilometer von Pokrowsk entfernt. Was die Situation der Ukraine weiter erschwert, sind die zahlenmäßige Überlegenheit der russischen Truppen sowie die Bereitschaft Moskaus, für die Erreichung kleiner Ziele hohe Verluste hinzunehmen.
Die kürzlich eingezogenen Ukrainer haben wenig gemein mit den erfahrenen Kämpfern, die sich im ersten Kriegsjahr in Scharen zum Militärdienst gemeldet hatten. Den neuen Kräften fehle es an grundlegender Ausbildung, beklagen Befehlshaber und Soldaten von vier Verteidigungsbrigaden im Gebiet um Pokrowsk. Einige sprachen sogar davon, künftig eigene Mobilmachungsaktionen starten zu wollen, um besser ausgebildete Kämpfer zu rekrutieren.
Logistische Hürden bei der Ausbildung
Im Mai hatte die Regierung ein umstrittenes Mobilisierungsgesetz in Kraft gesetzt. Seitdem werden Berichten zufolge jeden Monat Zehntausende Kämpfer eingezogen. Am größten ist die Nachfrage in der Infanterie. Allerdings gibt es logistische Hürden bei der Ausbildung, Ausrüstung und Bezahlung so vieler neuer Leute.
Aus Sicht mancher Militärexperten indes werden die neuen Rekruten zu Unrecht für Verluste von Ortschaften wie Prohres und Otscheretyne bei Pokrowsk verantwortlich gemacht. Die Ausbildung der Neuzugänge sei angemessen, betont Viktor Kewljuk von der Denkfabrik Zentrum für Verteidigungsstrategien in der Ukraine. Die Brigade-Kommandeure versuchten, für eigene taktische Fehler den neuen Kämpfern die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Der plötzliche ukrainische Vorstoß in Russland hatte zunächst die Hoffnung geweckt, dass der Kreml als Reaktion seine militärischen Ressourcen würde aufteilen müssen. Bislang ist dies aber nicht der Fall. Nach zwei Wochen hat sich der ukrainische Vormarsch zudem verlangsamt. Zuletzt gelangen den Streitkräften nur noch kleine Erfolge - ein mögliches Zeichen dafür, dass Moskau effektiver zurückschlägt.
Befehlshaber im Osten berichten, dass sich die Kämpfe dort seit dem Einmarsch verschärft hätten. Am Montag riefen die örtlichen Behörden die fast 53.000 Einwohnerinnen und Einwohner von Pokrowsk auf, binnen zwei Wochen ihre Häuser zu verlassen. In der noch näher an russischen Stellungen gelegenen Nachbarstadt Myrnohrad wurden den Menschen nur wenige Tage zur Evakuierung eingeräumt.
Die Einnahme von Pokrowsk würde ukrainische Versorgungsrouten in die Region Donezk gefährden und Russland den Vormarsch in die östlichen Städte Slowjansk and Kostjantyniwka erleichtern. Es wäre auch der erste größere strategische Sieg für Moskau seit Monaten. Die Offensive ist aber mit hohen Verlusten für Russland verbunden: Nach einer Schätzung des britischen Verteidigungsministeriums wurden in den vergangenen Monaten 70.000 russische Soldaten getötet.