Seit einigen Tagen ist die Autobiografie von Angela Merkel nun auf dem Markt. Kenner der Materie sagen: Viel Neues steht nicht drin. Eigentlich gar nichts. Doch damit wird man dem 736 Seiten starken Buch natürlich nicht gerecht.
"Sie kennen mich" war ein Satz Angela Merkels, der auf seine Art sensationell war. Sie sagte ihn 2017 in einem TV-Duell mit SPD-Herausforderer Martin Schulz. Wenn ein Politiker so einen Satz sagen kann und damit im Prinzip alles gesagt ist - mehr Vertrauen kann man bei der Wählerschaft nicht erreichen. Die Menschen hatten wohl tatsächlich das Gefühl, sie nach zwölf Jahren im Amt zu kennen. Aber taten sie das wirklich? Denn viel Persönliches hat sie nie preisgegeben.
Da könnte ihre Biografie "Freiheit" Aufschluss darüber geben, wer sich eigentlich hinter der öffentlichen Person, der Bundeskanzlerin, der Weltpolitikerin verbirgt. Diese Frage macht das Buch interessant, das die langjährige Regierungschefin und CDU-Vorsitzende zusammen mit Beate Baumann geschrieben hat - Merkels enger Mitarbeiterin, Beraterin und Vertrauten. Oder zumindest: interessanter.
Denn natürlich schauten seit der Veröffentlichung am Dienstag alle zuerst nach vermeintlichen Highlights: Was sagt sie über Friedrich Merz? Was über Wladimir Putin? Oder Donald Trump? Wie war es wirklich? Was packt sie aus? Aber wer danach sucht, empfindet wohl eher "leise Enttäuschung". So wie ihr Biograf Ralph Bollmann, der im Interview mit ntv.de sagte, inhaltlich habe er kaum Neues entdecken können.
Die nächste große Frage von Interesse: Was sagt sie zur Kritik an ihrer Amtszeit? Die ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine über sie hereingebrochen. Plötzlich waren die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl und die vernachlässigte Bundeswehr ein Riesenproblem. Die Verspätungen der Deutschen Bahn waren ärgerlich. Die mangelnde Digitalisierung peinlich. Merkel schreibt dazu sinngemäß entweder: 'Ich habe mir das damals alles gut überlegt und stehe weiterhin dazu.' Oder: 'Unter den damaligen Umständen, beispielsweise mit der SPD, war nicht mehr möglich.' Manchmal auch so etwas wie: 'Okay, an dieser oder jener Stelle wäre mehr schön gewesen.'
Club-Zigaretten geraucht
Aber was erfahren wir über den Menschen Angela Merkel? Es gibt eine Szene in dem Buch aus dem April 1991. Damals besucht Angela Merkel als Ministerin für Frauen und Jugend eine Anlage der alten Reichsbahn der DDR in Cottbus. "Als Erstes zündete ich mir eine Zigarette an", schreibt sie in ihren Memoiren. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" habe dieses Anzünden einer Zigarette prompt zur Überschrift eines Artikels gemacht: "Die Jüngste in Kohls Kabinett raucht noch in der Öffentlichkeit."
Eigentlich habe sie dort um Ausbildungsplätze kämpfen wollen. "Ich war selbst schuld", schreibt sie dann. "Es war mir sehr peinlich." Damals war sie 36, mit dem Rauchen habe sie zehn Jahre zuvor angefangen, schreibt sie. "Damals rauchte ich etwa eine Schachtel am Tag, Filterzigaretten der Marke Club. Nie wieder rauchte ich nach diesem Vorkommnis in der Öffentlichkeit. Bald hörte ich ganz auf."
Diese Szene ist in dem Buch nicht viel mehr als eine Randnotiz, aber sie ist aufschlussreich. Zunächst einmal die Tatsache, dass Merkel mal geraucht hat. Kann sich irgendwer Merkel mit Zigarette vorstellen? Die Vorstellung, wie sie einen Zug nimmt und vor einer Bahnanlage Rauch ausstößt, passt jedenfalls nicht zur "Sie kennen mich" -Kanzlerin.
Bemerkenswert ist aber noch etwas anderes daran: Wie sie vorführt, wie schnell die junge Politikerin aus ihren Fehlern zu lernen versuchte und sich anpasste. An anderer Stelle schreibt sie, sie habe Fehler immer nur einmal machen wollen. Bemerkenswert daran ist, dass sie das Rauchen überhaupt als Fehler empfand. Sie hätte genauso schreiben können: "Was interessiert sich die Presse für so eine Lappalie, es ging doch um Inhalte." Nein, Merkel sagte für sich: "Das war mein Fehler."
Genscher zeigte, wie es geht
Diese Lernfähigkeit könnte ein Schlüssel sein, sie besser zu verstehen. Man kann ihr in ihrer Autobiografie dabei zusehen, wie sie lernt, wie der Hase läuft. Das fängt schon an, als sie sich in der Wendezeit 1989 entscheidet, politisch aktiv zu werden. Sie schließt sich der Kleinpartei Demokratischer Aufbruch an, die sich in der Allianz für Deutschland mit der West-CDU verbündet und bei den ersten freien Volkskammerwahlen der DDR antritt.
Dabei beschreibt sie ein Hintergrundgespräch des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher in Moskau, an dem sie teilnahm. Dort wurde am 12. September 1990 der "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" unterzeichnet, in dem es um den Status des vereinten Deutschlands und Regelungen über den Truppenabzug der Sowjetarmee aus Deutschland ging. Sie selbst sollte als stellvertretende Regierungssprecherin der freigewählten DDR-Regierung deren Sicht der Dinge darlegen. Und hätte genau auf jede Fachfrage antworten können, wie sie schreibt. Natürlich hatte sie sich akribisch vorbereitet.
Genscher, der erfahrene Außenminister, machte es anders. "Ich hatte den Eindruck, eine Sternstunde der Diplomatie und einen Glücksmoment der Geschichte zu erleben", schreibt Merkel. Genscher habe sie beeindruckt, sie habe gelernt: "Die Ziele darlegen, den großen Zusammenhang deutlich machen, dann erst die Details aufzählen - so geht es." Das habe sie für ihr weiteres politisches Leben beherzigt, "auch wenn ich mich, wie man weiß, wirklich nicht immer daran gehalten habe".
Im Rahmen der Möglichkeiten an die Leistungsgrenze
Es gibt viele solche Beispiele in dem Buch, die einen Hinweis darauf geben, wie Merkel das eigentlich geschafft hat, an die Spitze des Landes zu kommen und dort fast so lange auszuhalten wie Helmut Kohl. Über ihr Leben in der DDR schreibt sie: "Hier war ich erwachsen geworden, hier hatte ich versucht, die vom Staat überall aufgestellten Hindernisse zu umfahren, ähnlich einem Skifahrer beim Slalomlauf. Ich hatte versucht, das Beste aus der Situation zu machen, immer neugierig und unternehmungslustig zu bleiben, niemandem Schaden zuzufügen und im Rahmen des Möglichen an meine Leistungsgrenzen zu gehen."
Mit den gleichen Worten könnte sie auch ihre Karriere nach 1989 beschreiben - mit deren Stärken und Schwächen: Sie ging definitiv im Rahmen des Möglichen an ihre Leistungsgrenzen. Aber der Rahmen des Möglichen war oftmals zu klein, um die Probleme tatsächlich zu lösen. Siehe Klimaschutz, Bundeswehr, Deutsche Bahn. Natürlich waren es nicht nur Neugier, Fleiß und Leistungsbereitschaft, die sie nach oben brachten. Dass sie Glück hatte, auch historisches Glück, sagt sie selbst. Ebenso wenig bestreitet sie, einen unbedingten Willen zur Macht gehabt zu haben.
Es schreit nach Erklärungen
Und doch kommt man dem Menschen Angela Merkel kaum näher durch dieses Buch. Warum sie unbedingt die Macht wollte, erklärt sie nicht. Privates deutet sie nur sehr vage an - die Gründe für die Scheidung von ihrem ersten Mann Ulrich Merkel zum Beispiel. Oder die Frage, ob sie sich jemals Kinder gewünscht hätte. Stattdessen passiert das, was typisch für Autobiografien ist. Im chronologischen Singsang geht es immer weiter aufwärts, ohne dass man so richtig versteht, warum eigentlich. Das ist bei Angela Merkels Autobiografie noch mehr der Fall, als es bei Wolfgang Schäubles Rückblick auf sein Leben war.
Plötzlich war sie Bundesministerin. Dann CDU-Vorsitzende. Dann stellt sie sich die Frage, ob sie Bundeskanzlerin werden möchte und beantwortet sie ganz sachlich für sich mit Ja. Es heißt oft, man solle nicht so viel in das Verhalten von Politikern "hineingeheimnissen". Aber allerspätestens da hat sie aber ein Niveau erreicht, das nach Erklärungen schreit. Denn außer einer Handvoll Menschen kommt niemand auch nur in die Nähe dieser Frage. Sie gewinnt die Bundestagswahl, wenn auch knapp, gegen Gerhard Schröders SPD. Irgendwann steht sie Putin gegenüber. Obama ehrt sie im Weißen Haus. Trump verweigert einen Handschlag.
Doch das liest sich genauso, wie einige Hundert Seiten früher, als sie erzählt, wie sie CDU-Mitglieder auf Rügen davon überzeugte, sie als Bundestagskandidatin aufzustellen. Oder wie sie Blaubeeren in den Wäldern der Uckermark pflückte. Es fehlt ein analytischer Blick, den ein Autobiograf vielleicht auch gar nicht haben kann. Sie kennen mich? Nein, immer noch nicht so richtig.