Im Berliner "Clärchens Ballhaus" definiert ein Küchenchef deutsche Küche neu. Ein Gespräch über deutsche Esskultur – und darüber, warum Speisekarten mehr Humor brauchen.
"Clärchens Ballhaus" in der Auguststraße in Berlin ist ein historisches Juwel, eine Zeitkapsel des Vergnügens, eine Institution der Kultur. Seit 111 Jahren existiert das älteste Tanzhaus Berlins bereits, ein Stück deutsche Geschichte, das nun kulinarisch eine neue Reise antritt. Im Restaurant "Luna d'Oro" heißt es nonchalant: "Hier isset jut wie janz früher, nur n büschen schicker." Küchenchef Tobias Beck, 31, der in verschiedenen Sternerestaurants auf der ganzen Welt gekocht hat, serviert hier inzwischen nostalgische Speisen wie Königsberger Klopse und Wackelpudding mit Vanillesauce. Warum er ausgerechnet die Küche seiner Eltern und Großeltern an diesem geschichtsträchtigen Ort zelebriert – und wie der Geist von "Clärchens Ballhaus" das Menü für seine Karte schreibt, erzählt der Küchenchef im Gespräch mit dem stern.
Herr Beck, was verbindet Sie mit der deutschen Küche?
Meine Erinnerungen an deutsches Essen sind sehr persönlich. Als ich klein war, fragte ich nach dem Kindergarten immer die Eltern meiner Freunde, was es zum Mittagessen gibt. Dann bin ich einfach dorthin gegangen, wo es für mich am leckersten klang.
Welchen Speisen konnten Sie nicht widerstehen?
Wenn es Frikadellen mit Kohlrabigemüse gab, bin ich mit Sicherheit mit. Am liebsten habe ich aber Spaghetti-Eis gegessen.
Spaghetti-Eis, ein deutsches Gericht?
Ja, in der Tat. Es weckt unglaublich nostalgische Gefühle bei vielen Deutschen. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in Mannheim, dem Geburtsort des Spaghetti-Eises. Erfunden wurde es von der Familie Fontanella. Der Vater, in den 70er Jahren aus Italien eingewandert, hatte die einfallsreiche Idee, Spaghetti Pomodoro als Eisdessert nachzubilden. Seine Kreation eroberte im Sturm das gesamte Land und ist bis heute ein bezauberndes Beispiel dafür, wie Essen als Kulturgut dient – eine kulinarische Errungenschaft, auf die man stolz sein kann.
Unterschätzen wir den Wert unserer eigenen Küche?
Die Grenze zwischen Scham und Stolz in Bezug auf die deutsche Küche ist erstaunlich schmal. Das Potenzial von deutschem Essen als kulturellem Ausdrucksmittel wird regional und auch international unterschätzt und zu selten zelebriert.
Was schätzen Sie an unserer Esskultur?
Die deutsche Küche ist mehr als nur Wurst. Als Koch dachte ich einst, mir fehle jene romantisierte Geschichte, die so oft italienische Köche prägt – jene, die schon im Kindesalter in der Küche ihrer Nonna hantierten. Doch ich lag falsch. Auch ich besitze eine solche Geschichte, sie mag anders sein, aber sie ist ebenso wertvoll.
Könnten Sie diese Geschichte teilen?
Meine kulinarische Geschichte ist geprägt von der Bockwurst mit Senf, die ich mir bei jeder Autofahrt an der Tankstelle gönne, oder dem gegrillten Hähnchen, dem "Broiler", vom Straßenhähnchenwagen. Auch meine Eltern und Großeltern haben mich geprägt. Sie haben Caterings für das Gemeindehaus angeboten – kalte Buffets, kunstvoll arrangiert auf silbernen Platten, geschmückt mit kleinen Deckchen.
Mit welchen Gerichten sind Sie aufgewachsen?
Mit deutscher Carbonara, also Schinkennudeln, das Ei muss darin ein bisschen stocken, mit Paprika edelsüß abgeschmeckt. Eigentlich der deutsche Chili, denn regional gibt es nichts Schärferes. Dies sind Gerichte, die Teil der deutschen Esskultur sind und leider oft übersehen werden.
Hat die deutsche Küche ein Identitätsproblem?
Ja, definitiv. Dieses Problem wurzelt in unserer turbulenten Geschichte. Nach zwei verlorenen Weltkriegen und einer Hungerkrise bildeten Kartoffeln und Kraut für lange Zeit die Hauptnahrungsmittel. Der Preisverfall bei Fleisch und die darauffolgende Produktionssteigerung, die Emanzipation der Hausfrauen und – damit verbunden – weniger Zeit zum Kochen, führten dazu, dass Tiefkühlkost sehr begehrt war. So hat sich eine Vorliebe herausgebildet: Fleisch und Fertigprodukte. Erst durch Tim Mälzers Einsatz wurde die Verwendung frischer Zutaten wieder trendy. Doch dabei wurden einige traditionelle Gerichte vernachlässigt.
Wie beispielsweise Grünkohl mit Pinkel?
Genau, das wäre ein Beispiel. Oder "Kloß mit Soße", "Hasenpfeffer" – Gerichte, die von einer älteren Generation geschätzt wurden. Eine Generation, die allmählich verschwindet. Deshalb habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass diese traditionellen Gerichte nicht in Vergessenheit geraten.
Sind die Gerichte auf Ihrer Speisekarte – frittierte Essiggurken, Brathähnchen, Königsberger Klopse mit Kartoffelpüree, Spaghetti-Eis – nicht zu simpel für Ihre Gäste?
Die deutsche Küche ist schlicht und oft aus zwei oder drei Zutaten zusammengesetzt – hier lässt sich wenig verbergen. Daher muss die Qualität der Produkte überzeugen. Wir arbeiten mit Landwirtinnen und Landwirten zusammen, mit denen ich eine langjährige Geschäftsbeziehung pflege und die biodynamische Produkte anbauen. Das ist in deutschen Restaurants eher die Ausnahme, oft wird auf Fertigware zurückgegriffen. Wir nehmen den Aufwand in Kauf, den Kartoffelbrei durch ein Sieb zu drücken.
Schmeckt das besser?
Man schmeckt die Hingabe, die wir in die Zubereitung investieren. Beispielsweise schütteln wir unseren Kartoffelsalat von Hand mit Brühe und warmen, von Hand geschälten Kartoffeln. Es ist enorm aufwendig, jedoch schätzen wir die Produktqualität und die zufriedenen Gäste. Wie in der Szene aus "Ratatouille", in der der Restaurantkritiker einen Bissen vom Ratatouille nimmt und in seine Vergangenheit zurückkatapultiert wird. Für uns Köche ist das die höchste Auszeichnung. Zugleich streben wir danach, Gerichte zu kreieren, die an die Leckereien von Mutter oder Großmutter erinnern. Diesen Geschmack der Gäste genau zu treffen, ist fast unmöglich, aber wir sind zufrieden, wenn unsere Klopse – natürlich nach Muttis – als die zweitbesten bezeichnet werden.
Sie kochen im ältesten Tanzhaus Berlins. Beeinflusst dieser historische Ort Ihre Speisekarte?
Dieser Ort inspiriert mich enorm. Eigentlich wollte ich zunächst eine Vesperplatte im Stil eines Biergartens anbieten, doch das passte nicht so recht in diesen Kontext. Dann habe ich mich wieder an meine Großeltern erinnert, die Häppchen auf großen Silberplatten mit weißen Untersetzern arrangierten. Bei uns gibt es nun Pumpernickel mit Teewurst, Würstchen im Schlafrock, russische Eier mit Kaviar, Obazda-Cracker auf einer Etagere, und auf Wunsch noch Austern dazu. Ein Hauch von Eleganz und Bourgeoisie.
Was wurde hier vor 100 Jahren serviert?
Hier wurde vor allem getanzt. An der Bar gab es dann Buletten oder Knacker mit Senf. Wir planen, diese Tradition wieder aufleben zu lassen, da der Spiegelsaal im Obergeschoss nun wieder für das Publikum und zum Tanzen geöffnet ist. Ich freue mich darauf, Schnittchen und Knacker anzubieten.
Sie bieten ungeniert Mettigel und grünen Wackelpudding mit Vanillesauce an. Zeugt das von Ihrem Humor?
Ich schätze einen humorvollen Blick auf deutsche Gepflogenheiten. Ob beim Applaudieren in einem Flugzeug oder beim Auspacken von hartgekochten Eiern und kleinen Frikadellen in der Deutschen Bahn – das bringt mich zum Schmunzeln. Wir verspotten die deutsche Küche nicht, wir kochen jedoch mit Humor und Leichtigkeit. Die deutsche Küche braucht ein wenig Frischluft, um wieder glänzen zu können.
Wie haben Sie Mettigel und Wackelpudding modernisiert?
Unser Waldmeister-Wackelpudding wird nicht mit Sirup, sondern mit frischem, selbst gesammeltem Waldmeister zubereitet. Aus der Gugelhupf-Form sieht der Wackelpudding traditionell, aber zugleich modern aus. Die Vanillesauce ist eine reichhaltige Crème Anglaise mit viel Vanille. Der Mettigel wird als klassisches Rindertatar in Igel-Form mit Zwiebeln als Stacheln serviert. Einige mögen uns für verrückt halten, aber wir lieben dieses Spiel mit der Nostalgie. Indem wir hochwertige Produkte verwenden und Techniken auf höchstem Niveau anwenden, bringen wir deutschen Gerichten frischen Wind und vermeiden Fertigprodukte. Am Ende soll es vor allem gut schmecken.
Sie haben jahrelang in der Sterneküche gekocht und sind jetzt in einem modernen Wirtshaus gelandet. Ist das ein Rückschritt?
Mein Ziel war es stets, auf höchstem Niveau zu lernen, aber letztendlich in der Grundlagenküche zu arbeiten. Ein perfekt zubereiteter Eintopf, der seit Generationen nach dem gleichen Rezept gekocht wird, beeindruckt mich mehr als ein Zehn-Gänge-Menü in einem Sterne-Restaurant. Ich schätze solche gehobenen Küchen durchaus und genieße, dort essen zu gehen, aber mein Herz hüpft bei einem Knacker mit Senf, bei dem ich während des Essens noch ein Pläuschchen mit dem Tankstellenmitarbeiter halten kann, der mir rät, meine Lippen beim Beißen in das Brötchen geschlossen zu halten, damit der Senf nicht überall hinspritzt.
STERN PAID 49_23 Einfach Essen 1510
Braucht man Sterneküche?
Sie hat definitiv ihre Berechtigung, denn wir brauchen in der gastronomischen Landschaft ein vielfältiges Spektrum. Ich denke, das Bewertungssystem könnte eine Überarbeitung vertragen, da es mitunter undurchsichtig scheint, wer welche Auszeichnung erhält. Persönlich spare ich lieber und esse in Paris, Kopenhagen oder London, da mir in Deutschland oftmals die Inspiration fehlt. Häufig geht das Menü hier nicht über Tonkabohne und Carpaccio von der Roten Bete mit Ziegenkäseschäumchen hinaus. Und für mich repräsentiert das einfach nicht die deutsche Küche.
Würden Sie gern mit Ihrem Konzept einen Stern erkochen?
Meine Küche ist aktuell zu bodenständig für solch eine Auszeichnung. Vielleicht wage ich irgendwann den Versuch und präsentiere eine dekonstruierte Variante der deutschen Wirtshausküche – dann könnte das durchaus machbar sein, wenn das jetzt nicht zu selbstbewusst klingt.
Wenn Sie nur noch ein Gericht essen könnten, welches wäre es?
Käsebrot. Eine Scheibe Graubrot mit einem kräftigen Stück Deichkäse aus dem Norden darauf.