2 days ago

Kolumne: Blick aus Berlin: Merz wird Kanzler – oder doch nicht?



Die Bundestagswahl scheint bereits zugunsten von Friedrich Merz entschieden. Warum es für Journalisten dennoch gute Gründe gibt, einmal das Gegenteil zu sagen.

Liebe Leserinnen und Leser, so viel Zeit muss sein: Ich wünsche Ihnen ein frohes neues Jahr.

Wenn Sie diese Kolumne lesen, haben Sie die letzte Neujahrsansprache von Olaf Scholz schon hinter sich. Manche mögen das bedauern, andere sind heilfroh. Ich möchte Sie mit dem Gedanken konfrontieren, dass es vielleicht gar nicht die letzte Neujahrsansprache dieses Kanzlers war.

Wie bitte?

Tja, da stehen Sie nun gleich zu Jahresbeginn vor einer äußerst kniffligen Aufgabe. Was erzählt der Fried da für Tünkram? Die Bundestagswahl ist doch entschieden, die Umfragen sind klar, Friedrich Merz wird Kanzler, Scholz abgelöst, aus, vorbei und so weiter. Okay, es könnte sein, dass die Koalitionsverhandlungen nach dem 23. Februar mehr als zehn Monate dauern, weil Merz mit den Grünen regieren will, aber Markus Söder nicht. Dann wäre Scholz an Neujahr 2026 noch immer im Amt, nur geschäftsführend, aber mit Fernsehansprache.

Das alles meine ich aber nicht.

Alle erwarten den Sieg von Friedrich Merz

Ich meine den Fall, dass Olaf Scholz die Wahl wirklich gewinnt. Auch wenn Sie jetzt einen zu hohen Restalkoholpegel vom Silvesterabend bei mir vermuten, möchte ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich diese Möglichkeit zumindest einmal ernsthaft in den Raum gestellt habe.

Es ist nämlich so: Alle Journalisten erwarten einen Sieg von Merz. Aber so ähnlich war das 2021 auch, als monatelang niemand glaubte, Olaf Scholz habe auch nur den Hauch einer Chance, Kanzler zu werden. Fast niemand. Denn es gab ein paar sehr wenige, die das anders aufgeschrieben haben, genau genommen: einen.

Merz Titelgespräch Heft 0200

Das war der Kollege Peter Dausend. Am 12. Mai 2021, als die SPD im ZDF-"Politbarometer" bei 14 Prozent stand, die Union bei 25 und die Grünen bei 26, notierte er unübersehbar auf Seite eins der "Zeit": "Olaf Scholz könnte Kanzler werden." Wahnsinn, oder? Das war damals so, als hätte der fanatische Saarländer Dausend prophezeit, der Drittligist 1. FC Saarbrücken spiele in zwei Jahren Champions League. Schlicht unmöglich.

Eine besondere Aura umgibt den Kollegen, seitdem er recht behalten hat. Ruhm und Ehre wurden ihm zuteil, und bestimmt genehmigte ihm sein Chefredakteur eine fette Gehaltserhöhung. Manche Leute sollen ihm Lottoscheine zum Ausfüllen geschickt haben. Und wann immer der Kanzler ungläubigen Journalisten seinen Wahlsieg auch für 2025 voraussagt und dabei spottet: "Ihr habt euch schon 2021 geirrt", ruft irgendeiner dazwischen: "Der Dausend nicht!" Das nagt am Selbstbewusstsein der Konkurrenz, jedenfalls an meinem.

Ein gigantisches Kanzler-Ego

Die Vorstellung, dass Scholz noch einmal gewinnt, ist der Albtraum vieler Journalisten – nicht unbedingt aus politischer Antipathie, sondern weil sie ahnen, wie der Kanzler diesen Triumph auskosten würde. Sein ohnehin ausgeprägtes Selbstbewusstsein wäre dann so groß, dass das Saarland dreimal reinpassen würde.

Fried-Kolumne 06.07

Ein Kollege hat neulich gesagt, nach einer etwaigen Wiederwahl würde er als Berichterstatter von Scholz' erster Reise in die USA den Atlantik lieber mit einem Ruderboot überqueren, als acht Stunden lang in einem Flugzeug mit dem Prahlkanzler zu sitzen.

Dennoch wollte ich hier und heute mal einen Wahlsieg von Olaf Scholz in den Raum stellen, siehe oben. Wenn es tatsächlich so kommt und Scholz am Wahlabend jubelnd ruft, alle hätten sich wieder geirrt, dann wünsche ich mir, dass Sie in den Fernseher rufen: "Der Fried nicht!"

Danke.

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