In ihrem Kochbuch dokumentiert Elissavet Patrikiou die Rezepte, Geschichten und Traditionen eines griechischen Dorfes – und ihre eigene Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen.
Ein kühler Morgen im Hafen von Thessaloniki in den frühen 1960er-Jahren: Mit einem einzigen Koffer in der Hand steigt die 19-jährige Anastasia auf das Schiff, das sie in eine ungewisse Zukunft trägt. Nach Deutschland. Ein Land, von dem sie kaum etwas weiß.
"Die Armut war unvorstellbar", erzählt ihre Tochter Elissavet Patrikiou, Fotografin und Kochbuchautorin, heute. "Im Dorf meiner Mutter war die Not so groß, dass die Kinder in der Schule sich einen einzigen Stift teilen mussten. Sie verließ ihre Heimat mit einem einzigen Koffer, ohne zu wissen, was sie erwartete – keine Zeitungen, kein Fernsehen."
Deutschland hatte damals, wie auch andere Industrienationen, Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte geschlossen. Für die Menschen aus den armen Regionen Griechenlands boten sich drei Hauptziele an: Australien, Amerika oder Deutschland. Während die 48-jährige Elissavet in ihrer kleinen Küche in Hamburg das Essen fertig zubereitet, erzählt sie weiter: "Sie wurden wie auf einem Markt begutachtet. Ein medizinischer Check-up folgte, gründlich und ohne Rücksicht auf Privatsphäre. Das waren andere Zeiten."
Ursprünglich wollte Anastasia nach Australien, das war ihr Traum. "Die australischen Einwanderungsbehörden verlangten damals ein Mindestalter von 20 Jahren", erklärt Elissavet. "Meine Mutter war mit 19 ein Jahr zu jung für Australien." So kam es, dass Anastasia stattdessen über das deutsch-griechische Anwerbeabkommen nach Deutschland vermittelt wurde – in eine Pelzfabrik in der schwäbischen Provinz.
Weihnachtsessen im Frühling
Der Duft von gebratenem Huhn und Gewürzen erfüllt Elissavets Küche an diesem Frühlingstag. Auf dem Esstisch warten bereits ein griechischer Brotsalat und eine Schale cremiger Joghurt mit frischen Kräutern. Sie öffnet den Ofen, nimmt das goldbraun gebratene Hähnchen heraus und stellt es auf den Tisch.
"Probier mal", sagt Elissavet und reicht mir einen Teller mit dem gefüllten Huhn und der aromatischen Reisfüllung. "Das ist unser Weihnachtsessen", erklärt sie mit einem Augenzwinkern. "Für Mama und mich gab es immer Huhn, weil wir ja zu zweit waren." Sie lacht. "Aber es schmeckt auch im Frühling fantastisch."
"Mit zwölf Jahren stand ich schon am Herd", erzählt sie, während wir essen. "Es gab keine Alternative. Meine Mutter arbeitete, also musste ich kochen. An Weihnachten, Ostern – an allen Feiertagen."
Das Huhn ist perfekt gegart, daneben serviert sie einen Dakos-Salat, getrocknetes Brot mit Tomaten und Feta. "Das wird im ganzen Mittelmeerraum gegessen", erklärt sie.
Elissavet Patrikiou ist zwischen zwei Welten aufwachsen
Elissavet Patrikiou mit ihrem Lieblingsgetränk in der Hand, einem Frappé: "Durch das Kochen halte ich die Verbindung zu meinen Wurzeln lebendig. Es ist wie eine Brücke zwischen meinen beiden Welten."
© Elissavet Patrikiou/Südwest Verlag
"In dem schwäbischen Dorf fühlte ich mich fremd mit meiner Sprache", erzählt Elissavet leise. "Die Leute kannten damals kaum Griechen, es war exotisch und befremdlich. Es war mir peinlich, Griechisch zu sprechen." Doch ihre Mutter bestand auf einer klaren Regel: Mit ihr durfte Elissavet ausschließlich Griechisch sprechen, mit allen anderen Deutsch. "So hat sie mir ein Stück Heimat bewahrt – inmitten einer Welt, die unsere Kultur noch nicht verstand."
Ihre Mutter Anastasia hatte drei Jobs in Deutschland: In der Fabrik arbeitete sie tagsüber, abends und am Wochenende im Altersheim. Alles für den großen Traum: Eines Tages zurückzukehren nach Vathylakkos, ihrem Heimatdorf, das etwa anderthalb Stunden von Thessaloniki entfernt liegt.
"Während andere Kinder im Sommer ans Meer fuhren, ging es für mich immer ins Bergdorf", erinnert sie sich, während sie das Huhn tranchiert. "Damals habe ich diese endlosen Zugfahrten gehasst. Dreißig Stunden ohne Klimaanlage durch ganz Jugoslawien." Und weiter: "Sechs fremde Menschen teilten sich ein Abteil, jeder mit seinem eigenen Proviant", fährt sie fort. "Die Gerüche vermischten sich in der Hitze. Für meine alleinstehende Mutter waren diese Reisen auch nicht ungefährlich."
Heute sieht sie diese Erfahrungen anders: "Diese Zeit hat mich geprägt. Ich habe gelernt, dass Lebensmittel nicht einfach im Supermarkt wachsen. Ich sah die harte Arbeit hinter dem Anbau, dem Einlegen, dem Fermentieren."
Die Dorfköniginnen und ihre Kochgeheimnisse
Nach dem Essen zeigt Elissavet mir ihr neues Buch "Meine griechische Dorfküche: Die Rezeptgeheimnisse der Großmütter". Es ist eine Hommage an die Frauen des Dorfes – die "Dorfköniginnen", wie sie sie liebevoll nennt. Auf den Seiten begegnen mir ihre Gesichter: Warwara, die Dorfbäckerin, deren Sesamkringel und Teigfladen legendär sind; Irini aus der Taverne mit ihrem berühmten Tzatziki; Tasoula, deren kleine Pitas mit Pastourma bei Festen nie fehlen dürfen und Sofia, deren Halva mit Grieß ein Kindheitstraum war.
Während wir durch die Seiten blättern, verweilt ihr Finger bei einem vergilbten Foto einer älteren Frau. "Das ist meine Großmutter Sofia", sagt Elissavet mit weicher Stimme. "Sie war die erste und wichtigste meiner Dorfköniginnen."
"Meine Großmutter kam aus der Türkei", erklärt sie mit einem Blick, in dem Stolz und Trauer zugleich liegen. "Beim 'Bevölkerungsaustausch' musste sie als junge Frau nach Griechenland übersiedeln, obwohl beide Völker vorher friedlich und selbstverständlich zusammenlebten. Sie durfte kaum etwas mitnehmen – nur ein paar wenige Habseligkeiten und die Erinnerungen an den Geschmack ihrer Heimat." Elissavet hält kurz inne.
"Meine gesamte Kindheit war geprägt von dieser Sehnsucht, irgendwo wirklich anzukommen. Diese Wurzellosigkeit zieht sich durch unsere Familiengeschichte – erst meine Großmutter, die ihre Heimat verlassen musste, dann meine Mutter, die nach Deutschland ging." Sie streicht sanft über die Fotografien im Buch. "Vielleicht ist das der Grund, warum mir diese Rezepte so viel bedeuten. Sie sind etwas Beständiges in einer Welt voller Abschiede."
Das Geheimnis der Langlebigkeit
Großmutter Sofia wurde fast 100 Jahre alt – "sicher auch dank ihrer gesunden Küche", sagt Elissavet. "Die Menschen in unserem Dorf werden ungewöhnlich alt, weil sie sich viel bewegen, draußen sind und wissen, was sie essen. Diese Frauen sind die wahren Hüterinnen unserer Kultur", erklärt die Kochbuchautorin und blättert durch die Fotos. "Vasiliki mit ihren gefüllten Auberginen, die sie 'Schühchen' nennt. Panagiota und ihr Spinatauflauf mit Béchamelsoße. Maria und ihre Bulgurbällchen, die seit Generationen auf Hochzeiten serviert werden."
Jedes Rezept erzählt eine Geschichte, jedes Gericht trägt eine Erinnerung. "Dieses Buch ist mehr als eine Rezeptsammlung", sagt sie mit Tränen in den Augen. "Es geht um die Frauen des Dorfes, um ihre Geschichten und Geheimnisse."
Anders als herkömmliche Kochbücher folgt Elissavets nicht der üblichen Einteilung in Vorspeisen und Hauptgerichte. "Ich habe es nach dem Aufbau eines griechischen Dorfes gegliedert – der Garten, die Bäckerei, der Tante-Emma-Laden, der Kiosk, die Taverne – und ganz wichtig das Kapitel 'Der Glaube und die Tradition'".
Die griechische Küche ist sehr grün
Sie erklärt: "Viele Menschen denken bei griechischem Essen sofort an Fleisch, aber tatsächlich ist die ursprüngliche griechische Küche sehr gemüselastig, viel vegetarisch und sogar vegan."
Der Grund dafür ist der orthodoxe Glaube, der das Leben in Griechenland bis heute prägt. "Mehrmals im Jahr wird gefastet", sagt Elissavet. "Gerade vor Weihnachten und Ostern verzichtet man über mehrere Wochen gänzlich auf tierische Erzeugnisse wie Fleisch, Milchprodukte oder Fisch. Das ist keine moderne Erfindung, sondern tief in der Kultur verankert."
Die strenge Fastentradition führte zu einer enormen Vielfalt an pflanzlichen Gerichten. In ihrem Kochbuch widmet Elissavet dem Glauben deshalb ein ganzes Kapitel. Darin finden sich nicht nur herzhafte Linsensuppen und gefüllte Weinblätter, sondern auch süße Versuchungen wie das mit Traubensirup zubereitete Halva oder Sesamkringel.
"Das Schöne an diesen Fastentagen ist", sagt Elissavet lächelnd, "es ist völlig egal, ob man tiefgläubig ist oder nicht. Es geht um das Miteinander. Diese Traditionen verbinden Menschen über Generationen hinweg."
Ein Traum wird wahr
Anastasia in ihrem Garten in Vathylakkos: Mit über 80 Jahren baut sie fast all ihre Lebensmittel selbst an. "Der Garten ist ihre Lebensversicherung", sagt ihre Tochter. "Er hält sie jung und gibt ihr Kraft."
© Elissavet Patrikiou
Elissavets Mutter hat mittlerweile ihr großes Ziel erreicht: "Nach 40 Jahren als Gastarbeiterin in Deutschland erfüllte sich meine Mutter endlich ihren Lebenstraum", erzählt Elissavet. "Sie kehrte nach Vathylakkos zurück, kaufte ein kleines Haus mit Blick auf den Olymp, den höchsten Berg in Griechenland. An dem Ort, an dem sie aufgewachsen ist." Mit Mitte 80 versorgt sich Anastasia fast komplett selbst. "Ihr Garten ist ihr Ein und Alles. Sie kauft nur noch Drogerieprodukte – alles andere baut sie an."
Als ich gehe, drückt mir Elissavet ein Päckchen in die Hand. "Ein bisschen Griechenland für dich", sagt sie mit einem warmen Lächeln. Darin entdecke ich später getrockneten Oregano von ihrer Mutter Anastasia und Safran aus dem Dorf Krokos – ein Stück Heimat zum Mitnehmen. Sie hat mir eine Welt gezeigt, die vielen Deutschen noch immer fremd ist – eine Welt jenseits von Gyros und Baklava, eine Welt voller Geschichten und Traditionen, die sie in ihrem Buch festgehalten hat.
"Wenn du etwas über die Esskultur eines Landes lernst, verstehst du auch die Menschen", sagt Elissavet zum Abschied. "Essen verbindet über alle Grenzen hinweg. Deshalb liebe ich es, Kochbücher zu machen."