Die US-Amerikaner sehen und hören beim Parteitag der Demokraten eine möglicherweise kommende Präsidentin, die alles in einem zu sein scheint: knallhart in der Außenpolitik, mitfühlend für die Sorgen der Menschen, energiegeladen für die Prinzipien der USA. Kamala Harris ist gegen Donald Trump gerüstet.
Wer jemand nicht ist, kann auch zeigen, wer jemand ist. Kamala Harris ist keine Unterhalterin wie Barack Obama. Sie hat nicht wie Joe Biden jahrzehntelang jeden Winkel des Kongresses ausgelotet. Harris ist auch kein Prominenz-Schauspiel-Politik-Chamäleon oder Weißer Mann, der von der Elitenfabrik ausgespuckt wurde. Dass sie auch keine große Rednerin ist, sagten einige - bis Donnerstagabend in Chicago. Dort, wo die Halle aus allen Nähten platzt, weil Harris die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten akzeptieren wird. Und mit einer großen Rede überrascht, ja, eine ganze Reihe von Zweifeln über ihre Positionen, Fähigkeiten und ihre mögliche Präsidentschaft hinwegfegt.
Die Begeisterung, die Energie ist ein weiteres Mal ohrenbetäubend, als sie auf die Bühne tritt, sich minutenlang bedankt. "Lasst uns zur Sache kommen", bittet Harris mehrmals, bevor das Lautstärkeniveau endlich ihre Beschreibung zulässt darüber, wer sie denn ist. Wer ihre Familie war, welche Werte sie vermittelt bekam, wo sie aufwuchs. Warum sie eine Staatsanwältin werden wollte: "(Meine beste Schulfreundin Wanda) vertraute mir an, dass sie von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde." Sie habe Wanda sofort zu Hause aufgenommen. "Ich wurde eine Strafverfolgerin, um Menschen wie Wanda zu beschützen, da ich glaube, dass jeder ein Recht auf Sicherheit, Würde und Gerechtigkeit hat". Die Halle jubelt ihr ausdauernd zu.
Es ist eine herausragende Hinleitung zum historischen Moment des Abends. Die persönliche Motivation, gefolgt vom Hinweis, dass sie nie für den Einzelnen, sondern immer nur für die Menschen im Gerichtssaal gestritten habe. Und dann: "Im Namen jeden Amerikaners, egal welcher Partei, Ethnie, Gender oder Sprache, die ihre Großmutter sprach, (..) nehme ich die Nominierung an." Der Jubel überschlägt sich. Harris fügt hinzu: "Mit dieser Wahl hat unser Land die flüchtige Möglichkeit, die Bitterkeit, den Zynismus und die spaltenden Schlachten der Vergangenheit hinter sich zu lassen." Harris stellt sich als die hoffnungsvolle, positive Kandidatin der Einheit dar. Ihren Widersacher, den Republikaner Donald Trump als den negativen der Spaltung.
Harris, parteiintern bereits nominiert, hat damit öffentlich die Kandidatur angenommen. Eine historische, als erste Schwarze und zweite Frau nach Clinton überhaupt. Viele Frauen wollten US-Präsidentinnen werden, nur eine schaffte es zur Kandidatin der beiden großen Parteien. Doch Hillary Clinton wurde 2016 von eben diesem Trump gestoppt. Harris' Rede an diesem Abend ist ihre vielleicht einzige Chance, das Bild von sich bei unentschlossenen und unabhängigen Wählern zu beeinflussen - ohne dass es jemand gleich wieder verzerren kann. So wie am 10. September, wenn die Demokratin in einem Fernsehduell auf ihren Kontrahenten Donald Trump treffen wird.
Der Anfang der Rede ist gemeistert. Nun muss Harris zeigen, dass sie das Zeug zur Präsidentin hat. Sie greift dafür ihren republikanischen Widersacher immer wieder frontal an und stellt sich als Gegenentwurf dar. Sie präsentiert sich als Verteidigerin der Menschen und ihn als jemanden, der nur im Eigeninteresse handelt. "Trump ist kein ernst zu nehmender Mann, aber die Folgen von ihm im Weißen Haus wären sehr ernst", warnt sie an einer Stelle.
Versprechen an die Mittelschicht
Harris verspricht, sich um die Alltagsprobleme der US-Amerikaner zu kümmern, um Lebensmittel- und Medikamentenpreise, aber auch Kleinkredite für Gründer und Kleinunternehmer zu ermöglichen. Sie wolle die Mittelschicht stärken und die Wohnkrise beenden, er jedoch nur eine Steuersenkung für seine reichen Freunde. Das ist ein enorm wichtiger Teil, denn Umfragen zeigen, dass die US-Amerikaner derzeit Trump mehr vertrauen, was die Wirtschaft angeht. Ihre Küchentischthemen sollen das ändern.
Das Thema Abtreibungen mobilisiert demokratische Wähler enorm, also geht Harris ins Detail. Die Republikaner und Trump planten mit oder ohne Zustimmung des Kongresses den Zugang zu Verhütung zu begrenzen und landesweit Abtreibungen verbieten, sagt sie: "Er hat vor, einen nationalen Anti-Abtreibungskoordinator einzusetzen und dass Bundesstaaten Fehlgeburten und Abtreibungen von Frauen melden müssen." Diese Vorwürfe sind dem konservativen "Projekt 2025" entnommen, ein Regierungsprogramm, an dem zwar viele aus Trumps Umfeld mitgearbeitet haben, von dem sich der Ex-Präsident aber öffentlich distanziert. "Sie sind von Sinnen", fasst Harris zusammen.
Viele Amerikaner glauben, Trump sei besser in der Lage, die Einwanderung über die Südgrenze zu Mexiko zu stoppen. Die Republikaner versuchten Harris als Gescheiterte darzustellen. Doch die Demokratin erklärt geschickt, wie der Republikaner die im Kongress mit Konservativen ausgehandelten Maßnahmen vor die Wand fahren ließ, weil er dachte, der Erfolg des Gesetzes könnte Biden im Wahlkampf helfen. "Ich weigere mich, mit unserer Sicherheit Politik zu machen", sagt sie: "Als Präsidentin werde ich das Gesetz zurückholen und es unterzeichnen." Es sieht unter anderem deutlich mehr Grenzbeamte vor und eine deutliche Verringerung der Bearbeitungszeit bei Asylanträgen. Harris verspricht zudem eine Einwanderungsreform.
Keinen Zentimeter für Tyrannen
Harris schaltet nun einen Gang hoch, sie zeigt sich furchtlos, verspricht, die USA würden unter ihr weiterhin die "stärksten, tödlichsten" Streitkräfte der Welt unterhalten. Die Vereinigten Staaten müssten die Welt in die Zukunft führen, nicht wie Trump mit dem Austritt aus der NATO drohen und Russlands Präsident Wladimir Putin ermutigen. "Fünf Tage, bevor Russland in die Ukraine einmarschierte, habe ich mich mit Präsident Selenskyj getroffen. Ich habe danach die Reaktion von mehr als 50 Ländern organisiert", sagt sie über ihre Führungsqualitäten und verspricht: "Ich werde als Präsidentin an der Seite der Ukraine und der NATO stehen!"
Die Kandidatin schafft den Spagat, sowohl Israel als auch den Palästinensern ihre Unterstützung zu versichern. Als sie sagt, sie arbeite daran, dass die Palästinenser "ihr Recht auf Selbstbestimmung" ausüben können, jubelt die Halle ausgiebig; es war ein brodelnder Konflikt bei den Demokraten, der Progressive und junge Wähler mit Biden entfremdete: Wegen des Kriegs in Gaza waren dem Präsidenten viele Unterstützer von der Fahne gegangen, insbesondere im so wichtigen Bundesstaat Michigan, wo viele arabischstämmige Wähler leben. Harris zeigt sich nun knallhart: "Ich werde mich nicht an Tyrannen und Diktatoren wie (Nordkoreas Machthaber) Kim Jong Un heranwanzen, die zu Trump halten; denn sie wissen, dass er mit Schmeicheleien und Gefallen einfach zu beeinflussen ist." Sie wüssten, Trump werde sie nicht zur Rechenschaft ziehen: "Denn er will selbst ein Autokrat sein."
Harris zeigt sich als starke Anführerin mit Prinzipien, schaltet aber anscheinend mühelos zurück in eine persönlichere Ansprache. Mit weicherem Ton beschwört sie einmal mehr den Zusammenhalt aller US-Amerikaner und patriotische Prinzipien, zeigt sich so als Kandidatin der Einheit. Dann fallen die Luftballons von der Decke, Beyoncés "Freedom" erklingt. Vieles ist in dieser Rede deutlich geworden, aber eines ist glasklar: Gegen eine Kamala Harris in dieser Verfassung muss sich Trump auf einen harten Wahlkampf einstellen.