Ukrainische Truppen erobern Dutzende russische Orte und Kremlchef Putin reagiert wie gewohnt: gelähmt und zögerlich. Sein Image als starker Mann leidet. Die Eliten fragen sich, so eine Expertin, "ob der alte Mann weiter ein Vorteil ist oder bereits eine Belastung".
Vor einem Jahr schritt Präsident Wladimir Putin auf eine Bühne in der Region Kursk, um den 80. Jahrestag einer der stolzesten Momente der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg zu begehen. Vor einem hingerissenen Publikum - einschließlich Soldaten, die von Kämpfen in der Ukraine zurückgekehrt waren - nannte der Kremlchef den Sieg in der entscheidenden Schlacht von Kursk "eine der großen Heldentaten unseres Volkes". Jetzt, da Russland an diesem Freitag den 81. Jahrestag jener Schlacht feiert, ist Kursk erneut in den Schlagzeilen - aber aus einem ganz anderen Grund.
Am 6. August haben die ukrainischen Streitkräfte einen blitzartigen Vorstoß in die Region gestartet, sie haben Dörfer eingenommen, Hunderte von Gefangenen gemacht und die Evakuierung von Ortschaften mit insgesamt Zehntausenden Zivilisten erzwungen. Russland wurde von der Offensive kalt erwischt und zieht Berichten zufolge Wehrpflichtige ein, um einige der kampferprobtesten ukrainischen Einheiten zurückzudrängen.
Insgesamt hat Putin den ukrainischen Vorstoß bislang heruntergespielt. Bei einem vom Fernsehen übertragenen Treffen seines Sicherheitsstabes in Sachen Kursk am 12. August schien er sich unbehaglich zu fühlen, schnitt dem amtierenden regionalen Gouverneur das Wort ab, als dieser begann, die von den Ukrainern eingenommenen Ortschaften aufzulisten. Sowohl der Präsident als auch seine Mitarbeiter waren klar bemüht, die Dinge nicht beim Namen zu nennen, sprachen im Zusammenhang mit der Offensive von "den Ereignissen in der Region Kursk", von einer "Situation" oder "Provokation".
Die staatlichen Medien schlossen sich der Linie an, zeigten Einwohner der evakuierten Dörfer beim Anstehen für Hilfsgüter und die Abgabe von Blutspenden - als wären die Vorgänge in Kursk eine humanitäre Katastrophe und nicht die bislang größte Attacke gegen Russland seit dem Zweiten Weltkrieg.
Putins Image leidet
In seinen 24 Jahren an der Macht hat sich Putin selbst als die einzige Person porträtiert, die Russlands Sicherheit und Stabilität gewährleisten kann. Aber dieses Image hat gelitten, seit der Krieg vor zweieinhalb Jahren begann, auch wenn die Unterstützung für ihn weiterhin stark ist. Russische Städte sind von ukrainischen Kräften mit Drohnen angegriffen und beschossen worden. Der später unter ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommene Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, startete im vergangenen Jahr einen Aufstand, um seine militärischen Vorgesetzten zu entmachten. Im März stürmten bewaffnete Männer eine Moskauer Konzerthalle und töteten 145 Menschen.
Während das Staatsfernsehen die Unterstützung für Putin antreibt, ist es schwieriger, die Meinung seiner Schlüsselanhängerschaft einzuschätzen - die der russischen Eliten. Putin sei von ihrer stillschweigenden Zustimmung abhängig, sagt Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann, eine externe Expertin der Denkfabrik Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin. Was sich in ihren Köpfen ständig abspiele, sei die Kalkulation, "ob der Status quo zu ihrem Vorteil ist oder nicht".
Seit der Krieg begann, ist das Leben für diese Eliten - Putins innerer Kreis, Topbürokraten, Sicherheits- und militärische Offizielle sowie führende Geschäftsleute - schlechter geworden, nicht besser. Hat der Krieg auch viele von ihnen bereichert, haben sie aufgrund westlicher Sanktionen weniger Möglichkeiten, ihr Geld auszugeben. Die Frage, die sie sich selbst über Putin stellten, so Schulmann, "ist, ob der alte Mann weiter ein Vorteil ist oder bereits eine Belastung".
Man könne sagen, dass Russlands Eliten sich in einem Zustand "nicht glücklicher Konformität" befänden, meint Nigel Gould-Davies vom Internationalen Institut für Strategische Studien in London. Sie seien unzufrieden mit dem Status quo, aber machten sich Sorgen darüber, wer im Fall eines Führungskampfes gewinnen würde. Und sie könnten die Hoffnung hegen, so der Experte, dass Putins Reaktion auf die Vorgänge in Kursk einem Muster folge, nach dem er zunächst langsam mit der Antwort auf eine Krise ist, bevor er dann am Ende handelt.
Beim "Kursk"-Unfall blieb Putin im Urlaub
Es ist etwas, was man seit seinen frühesten Tagen an der Macht von ihm kennt - angefangen mit den Ereignissen um das Atom-U-Boot "Kursk", das vor 24 Jahren nach der Explosion eines seiner Torpedos in der Barentssee sank. Alle 118 Besatzungsmitglieder an Bord kamen um. Putin blieb anfänglich im Urlaub, was ihm verbreitet Kritik eintrug, und wartete fünf Tage, bevor er westliche Angebote der Hilfe annahm. Ein früheres Handeln hätte vielleicht einige der Matrosen retten können, die die Explosion ursprünglich überlebt hatten.
Putin erschien auch lahm in seiner Antwort auf Prigoschins Aufstand im Juni 2023, der - wenn auch nur kurz - die bislang ernsteste Herausforderung für seine Machtposition wurde. Nach dem Versanden der Meuterei war es dem Wagner-Chef zunächst erlaubt, auf freiem Fuß zu bleiben, aber Schulmann zufolge war es dann am Ende Putin, der "zuletzt lachte", als der Söldnerführer einen Monat später bei einem weiterhin mysteriösen Absturz seines Privatflugzeuges getötet wurde.
Als die Kursk-Offensive kürzlich in ihre dritte Woche ging, war Putin weiter bemüht, sich an sein Programm zu halten. Er begab sich sogar auf eine zweitägige Reise nach Aserbaidschan. Am Dienstag erwähnte er die Krise kurz, versprach, "jene zu bekämpfen, die Verbrechen in der Kursk-Region begehen".
Angesichts des Erstickens abweichender Meinungen im eigenen Land und linientreuer Medien könne Putin es sich leisten, die "völlig zynische" Entscheidung zu treffen, die Vorgänge in Kursk zu ignorieren, meint Schulmann. Aber je länger der ukrainische Vorstoß andauert, desto mehr militärische und politische Herausforderungen stellt sie dar.
So scheint Russland Mühe zu haben, geeignete Kräfte zur Abwehr des Angriffes aufzubieten. Und mit dem Andauern der Offensive, so Gould-Davies, werde es eine Kernfrage, was passiert, "wenn Russlands Eliten zum Schluss kommen, dass der Konflikt "ungewinnbar ist oder (...) er nicht enden wird, solange Putin an der Macht ist".