Die ukrainische Kursk-Offensive kann den russischen Vormarsch in der Region Donezk nicht aufhalten. Die Kreml-Truppen erobern auf ihrem Weg nach Pokrowsk nahezu kampflos eine wichtige Ortschaft und stehen nun vor den Toren der Stadt. Fehlen der Ukraine die Soldaten? Experten sehen das Hauptproblem woanders.
Während sich der ukrainische Vorstoß in der russischen Region Kursk in den letzten Wochen deutlich verlangsamt hat, rücken die Russen an der Front bei Pokrowsk im Donbass immer weiter mit hohem Tempo vor. Die ukrainische Armee hat in der Region Kursk nach Angaben des Oberbefehlshabers Olexander Syrskyj seit Beginn der Offensive am 6. August knapp 1.300 Quadratkilometer und rund 100 Ortschaften erobert. Es ist viel Gebiet, doch das meiste davon eroberte Kiew in den ersten Tagen der Operation – bereits am 13. August teilte Syrskyj mit, die Ukraine kontrolliere 1.000 Quadratkilometer in der Region Kursk. Das Tempo des Vorstoßes hat also deutlich abgenommen, was nicht verwunderlich ist. Der Überraschungseffekt sei vorbei, sagte der österreichische Oberst Markus Reisner Anfang der Woche im Interview mit ntv.de. "Die ukrainische Armee versucht zwar noch, dort vorzustoßen, wo es möglich ist. Vor allem aber muss sie sich auf Gegenangriffe vorbereiten", erklärte er.
Und offenbar gibt es bereits einige, auch wenn kleine, erfolgreiche Rückeroberungsversuche der Russen. Zwar meldete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch, die Ukraine habe weitere Flächen im Grenzgebiet unter ihre Kontrolle genommen. Im Norden des eroberten Gebiets haben aber russische Truppen laut der Open-Source-Karte des ukrainischen Projekts Deep State Map die strategisch wichtige Ortschaft Korenjewo wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Eine offizielle Bestätigung gab es jedoch weder von Kiew noch von Moskau. Dass die Ukrainer in naher Zukunft in der Region spürbar mehr Fläche erobern, ist wohl wenig wahrscheinlich.
Situation um Pokrowsk "extrem schwierig"
Eins der Ziele der ukrainischen Offensive war es gewesen, die Kreml-Truppen von der Donbass-Front abzulenken, doch dieser Plan scheint nicht – oder zumindest nicht vollständig – aufgegangen zu sein. Zwar habe Russland nach Kiews Angaben mittlerweile 30.000 Soldaten in die Region Kursk geschickt. Allerdings werden sie anscheinend nicht von der Donbass-Front abgezogen. Dort dringen Russlands Truppen ungeachtet großer Verluste weiter vor und stehen inzwischen kurz vor der strategisch sehr wichtigen Stadt Pokrowsk.
Die Stadt, die vor dem Krieg rund 60.000 Einwohner zählte, fungiert als wichtige logistische Drehscheibe. Ihre vielen Straßen- und Eisenbahnanbindungen ermöglichen eine effiziente Verteilung von Munition und anderen militärischen Gütern. Der Verlust von Pokrowsk würde die ukrainischen Versorgungswege erheblich beeinträchtigen und somit die Verteidigungsstrategie der Ukraine gefährden.
Die Situation um Pokrowsk sei "extrem schwierig", räumte Selenskyj in einer Videoansprache am Mittwoch ein. Das bestätigt unter anderem der Verlust der Kleinstadt Nowohrodiwka, die nur etwas mehr als zehn Kilometer von Pokrowsk entfernt liegt. Nach Angaben von Deep State und dem Institute for the Study of War (ISW) hätten die Russen innerhalb von nur wenigen Tagen die Kontrolle über den Großteil des 15.000-Einwohner-Ortes übernommen. Die ukrainische Abgeordnete Marjana Besuhla kritisierte daraufhin, dass die Stadt praktisch kampflos gefallen war. "Die Schützengräben vor Nowohrodiwka waren leer. In der einst zwanzigtausend Einwohner zählenden Stadt gab es praktisch keine ukrainische Armee", schrieb sie in sozialen Medien.
"Das Kommando beherrscht die Gesamtlage nicht"
Fehlen an der Front bei Pokrowsk nun Soldaten, weil sie in die Region Kursk geschickt wurden? Der bekannte ukrainische Militärjournalist Jurij Butusow sagt nein. Der Grund für den schnellen Verlust von Nowohrodiwka "liegt nicht in der enormen Überlegenheit der russischen Kräfte, sondern in den organisatorischen und administrativen Problemen der ukrainischen Armee", erklärte der Front-Journalist "Current Time", dem russischsprachigen Fernsehsender mit Sitz in Prag. Die Situation habe sich drastisch verschlechtert, nachdem Syrskyj in diesem Frontbereich einen neuen Kommandanten eingesetzt hatte, der laut Butusows Angaben "keine Führungserfahrung auf diesem Niveau hat".
Auch Deep State sieht die Situation ähnlich. "Das Kommando, das für diesen Abschnitt verantwortlich ist, hat ein mangelhaftes Situationsbewusstsein und beherrscht die Gesamtlage nicht. Aus Gesprächen mit den dort befindlichen Soldaten und Brigaden ergibt sich, dass die Situation ein völliges Chaos ist", sagte Roman Pogorelyj, Analyst des Projekts, dem Fernsehsender Kyiw24.
Dennoch sind sich Experten einig, dass die Ukraine Pokrowsk keinesfalls kampflos abgeben wird. "Die Aufgabe besteht darin, die Besatzer nicht näher an die Stadt heranzulassen, obwohl sie vorrücken. Das versuchen wir jetzt auch zu tun, damit sie keine Möglichkeit haben, die Stadt aktiv mit Artillerie zu beschießen", sagte ein ukrainischer Offizier dem Radio Svoboda. Derweil verbleiben in Pokrowsk trotz laufender Evakuierungen rund 38.000 Zivilisten. Die Menschen, die in der Stadt bleiben, glauben, "dass die ukrainischen Streitkräfte Pokrowsk nicht aufgeben und sich nicht von Pokrowsk zurückziehen werden", erklärte der ukrainische Offizier weiter. "Und das ist der größte Ansporn."