Nach der Landtagswahl in Brandenburg lädt sich Caren Miosga in ihre Talkshow im Ersten hohen Besuch ein: Ex-Bundespräsident Joachim Gauck. Der bewertet den Erfolg der AfD in Ostdeutschland, besonders bei jungen Wählern.
"Ich kann eine gewisse Beunruhigung nicht verbergen", sagt Ex-Bundespräsident Joachim Gauck am Sonntagabend in der ARD-Talkshow "Caren Miosga". Was er meint, ist der Wahlerfolg der AfD bei den letzten drei Landtagswahlen in Ostdeutschland. Vor drei Wochen war die in Teilen rechtsextreme Partei in Thüringen auf den ersten Platz gekommen, in Sachsen war sie zweitstärkste Partei geworden. In Brandenburg hatte die AfD an diesem Sonntag erneut einen zweiten Platz errungen und hat so viele Abgeordnetenmandate, dass sie weitreichende Gesetze verhindern kann, ebenso wie in Thüringen.
Nach der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR sei klar gewesen: In Deutschland werde es zwei Kulturen geben, so Gauck. "Das hängt nicht mit dem Charakter der Ostdeutschen zusammen. Viele denken ja, der Ossi ist undankbar. Das ist Quatsch." Dennoch seien Unterschiede da, die man beim Wahlverhalten in Ostdeutschland erkennen könne, aber auch in der Beziehung zu Freiheit oder in der Problemlösungskompetenz. Die Menschen in Ostdeutschland haben vor der Wende 1989 55 Jahre in Diktaturen gelebt, erinnert Gauck.
Dazu komme, dass die demokratischen Parteien auch Fehler gemacht hätten. "Jede Regierung macht mal Fehler. Und wir hören, dass sich die Zufriedenheit mit der Ampel in engen Grenzen hält", kritisiert Gauck. "Und da gab es mal eine Erwartungshaltung, die kräftig geschürt wurde von den Ampelpartnern, und dann gab es Phasen der Unentschlossenheit und ungelöste Probleme. Das Hauptproblem, was den Nationalpopulisten hilft, ist immer das Migrationsproblem", so Gauck.
Das Misstrauen wachse, wenn an den Problemen nicht spürbar gearbeitet werde. "Und der Vertrauensverlust artikuliert sich dann, indem man den Politikern unterstellt, sie haben die Kontrolle verloren. Aber vielleicht sind sie noch am Arbeiten, aber sie arbeiten an unterschiedlichen Stellen und sind an markanten Positionen, wo die Bevölkerung mehr Sicherheit erwartet, vielleicht zu spät dran. Und dann verstärkt sich dieses Misstrauen gegenüber denen, die gerade regieren. Und zurzeit erleben wir gerade eine solche Phase gegenüber unserer Ampelregierung." Zu spät habe sich gezeigt, dass die Regierung eben nicht die Kontrolle verloren habe, sagt Gauck.
AfD und junge Wähler
Die negative Haltung gegen ausländische Mitbürger kann Gauck nachvollziehen. Sie habe zwei Gründe. Ungefähr ein Drittel der Menschen habe ganz allgemein das Bedürfnis, sich vor dem Wandel zu schützen. Das sei kein ostdeutsches Problem, es betreffe vielmehr die Menschen in ganz Europa. Das nutzten nationalpopulistische Parteien für ihre Zwecke. Doch dann gebe es noch ein ostdeutsches Problem: Die Erfahrung mit der Diktatur. "Die ostdeutsche Gesellschaft hat keinen schlechten Charakter, aber schlechtere Startbedingungen in die Existenz eines Bürgers. Das heißt: Autonomie, Eigenverantwortung, der Wert der eigenen Meinung, die Rolle des Ichs in einer Gesellschaft, all das war völlig anders", sagt Gauck. Die ostdeutsche Bevölkerung habe in andauernder politischer Ohnmacht und in einer andauernden Übermacht der Wenigen über die Vielen gelebt. Diese Erfahrung sei an die folgende Generation weitergegeben worden.
Das könnte ein Grund sein, warum besonders junge Wähler für die AfD und ihre Thesen empfänglich sind. Doch nicht der einzige, sagt Gauck. Junge Menschen sozialisieren sich vor allem in Schule und Elternhaus. Gleichzeitig gebe es bei jungen Menschen eine stärkere Tendenz hin zu sozialen Medien. Die nutzten rechtspopulistische Akteure und Influencer für ihre Zwecke.
"Ich glaube auch, dass eine gewisse Krisenerfahrung der Jugend eine Rolle spielt. Da spielt die Corona-Krise eine Rolle, aber natürlich auch Prozesse der globalen Krisenhaftigkeit, der Entgrenzung, der Dynamisierung der Gesellschaft", sagt Gauck. So habe man früher gedacht, junge Menschen seien migrationsoffener, weil sie mit der Selbstverständlichkeit einer Migrationsgesellschaft aufwachsen würden. Das habe sich inzwischen jedoch geändert. "Und dann gibt es auch wenige Instanzen, die offensichtlich das einhegen können und den Leuten auch politische Angebote machen. Und dann gewinnt die AfD mit ihren Parolen", so Gauck weiter.
Hier müssten nun eigentlich die demokratischen Parteien eingreifen. Warum sie das aber nicht tun, erklärt Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach bei Miosga: "Wir haben in den letzten Jahren immer wieder den Trugschluss gesehen, dass junge Leute mit Junge-Leute-Themen assoziiert werden. Das ist dann so was wie Bildung oder Digitalisierung. Aber viele Studien der letzten Jahre zeigen, dass die Themen junger Menschen im Grunde auch die Themen von Erwachsenen sind: sichere Arbeitsplätze, Eigentum erwerben zu können, eine gute belastbare Lebenssituation zu entwickeln. Und da ist ein Fehler, dass die anderen Parteien die Zielgruppe der jungen Menschen in all diesen Themen - Renten, Arbeitspolitik - aus dem Blick verloren haben."
Gauck fordert demokratische Sympathieträger
Die AfD habe in Brandenburg junge Menschen, die noch nicht wahlberechtigt gewesen seien, über Schulpolitik informiert, sagt Reuschenbach. "Wir sehen, dass die AfD es nicht nur schafft, die Ängste und Sorgen zu triggern, sondern sie spricht diese Gruppe auch an."
Soziologe Steffen Mau fügt hinzu: "Das Wichtigste für Jugendliche sind Anerkennungszusammenhänge: dass man von Gleichaltrigen bestätigt wird. Und wenn man schon rechte, starke Milieus hat, wenn man eine politische Kultur hat, die sich nicht stark gegen solche rechten, rechtspopulistischen, rechtsextremen Tendenzen zur Wehr setzen kann, dann kann das auch für Jugendliche ein Kontext sein, wo sie Gemeinschaftserlebnisse haben."
Die beiden Argumente greift Gauck auf, als er am Ende der Sendung eine Idee formuliert, wie man rechtspopulistische Parteien möglicherweise bekämpfen kann: "Viele Menschen wählen ohne ausreichende politische Gründe für die Wahl. Deshalb brauchen wir im Vorfeld von Debatten Sympathieträger aus der Mitte der Bevölkerung, aus Lebenswelten von Menschen, die verunsichert sind, aus der Nähe der Menschen, die wir begeistern für unsere offene liberale Gesellschaft und ihre Möglichkeiten. Unsere Gesellschaft ist ein Raum der Möglichkeiten. Man muss sie aber auch wollen und man muss auch etwas dafür geben, nämlich sich selbst in Beziehung setzen zu dem, was man haben möchte. Das bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Und die, die das können, sind oft stärkere Sympathieträger als unsere Politiker. Und die müssen wir einbeziehen in dieses Werben: Das ist die Welt dieser Erfolge und dieses Glücks." Und weiter: "Es fehlt in der Gesellschaft der Klage das Bewusstsein, dass wir Dinge verändern können."