Jede Nacht demonstrieren in Georgien Tausende gegen den prorussischen Kurs der Regierung. Die schlägt zurück. Gegen die Demonstranten – und nun auch gegen Oppositionsführer.
Schon früh an diesem Dienstagabend, es ist gerade mal sieben Uhr, demonstriert die georgische Polizei in der Hauptstadt Tiflis, was sie tun will in dieser Nacht – dasselbe wie in der Nacht zuvor und der davor: Härte zeigen. Dort, wo die Rustaweli-Allee vom Freiheitsplatz in Richtung Parlament beginnt, stehen drei schwarz lackierte Wasserwerfer mit laufenden Motoren, Blinklichter blenden jeden, der sich ihnen in den Weg stellt.
Ein paar Meter weiter machen sich auch die beiden Studentinnen Gvantsa und Maria bereit für die nächste Protestnacht. In dieser Nacht werden es nicht 100.000 sein, aber immerhin einige Zehntausend, die vor das Parlament von Tiflis ziehen.
Gvantsa hat sich eine weiß-rote Georgienflagge über die Schultern gelegt, Maria ein weißes Tuch über den Mund gebunden – es soll gegen das Tränengas helfen. "Wir haben keine Angst", sagen die beiden 18-Jährigen, die gerade zum ersten Mal an einer Wahl teilgenommen haben. "Angst haben wir davor, eines Tages in Russland aufzuwachen!"
Georgien erlebt seit knapp einer Woche die größten Proteste seit der "Rosenrevolution" von 2003, nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in anderen Städten des Landes. Sie folgten auf eine Parlamentswahl Ende Oktober, die von der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) deutlich kritisiert wurde. Die Regierungspartei "Georgischer Traum", die seit 2012 regiert und vom Milliardär Bidsina Iwanischwili kontrolliert wird, holte nach offiziellen Angaben 54 Prozent der Stimmen, das Oppositionsbündnis 37 Prozent.
80 Prozent der Menschen in Georgien wollen in die EU
Der Protest gegen die Wahlen blieb jedoch schwach. Erst als Premierminister Irakli Kobachidse vor einer Woche erklärte, dass Georgien bis 2028 keine weiteren Verhandlungen über einen EU-Beitritt führen und auch keine EU-Gelder mehr annehmen werde, kochte der Zorn der Menschen hoch. Denn etwa 80 Prozent der knapp vier Millionen Georgier unterstützen einen EU-Beitritt des kleinen Landes im Südkaukasus, das im Norden an Russland und im Westen an die Türkei grenzt.
"Damit hat Kobachidse uns ein Geschenk gemacht", sagt Giorgi Butikashvili. Er steht vor dem Parlament, während sich gellende Pfeifkonzerte abwechseln mit "Georgien, Georgien"-Sprechchören und dem lauten Knallen von Silvesterraketen, die die Demonstranten in Richtung der Polizeiketten abschießen. Der 37-Jährige mit Vollbart und Brille könnte auch in einem Berliner Hipster-Café sitzen. Butikashvili hat in Deutschland studiert und bis zum Frühjahr für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Tiflis gearbeitet. Und eigentlich müsste er jetzt nicht vor dem Parlament stehen, sondern drinnen sitzen. Butikashvili errang einen der 19 Parlamentssitze des Bündnisses "Koalition für Wandel", aber aus Protest gegen die Fälschungen bei der Wahl gaben alle 19 ihre Mandate zurück.
Der junge Politiker glaubt, dass jetzt der Moment der Entscheidung sei: "Wir müssen so lange kämpfen, bis die Robocops (so nennen die Demonstranten die Polizisten) müde sind. Und der Punkt wird kommen. Wir sind ja viel mehr als sie." Butikashvili glaubt auch, dass das Regime schließlich auseinanderfallen werde – erste Rücktritte von Botschaftern gibt es tatsächlich.
Der Westen müsse aber jetzt den Druck erhöhen, durch persönliche Sanktionen gegen Regierungsmitglieder und Beamte des Innenministeriums. "Das Regime will hier den Eindruck vermitteln: Der Westen redet nur, aber tut nichts", warnt Butikashvili. Zudem ist er überzeugt, dass hinter dem Vorgehen der Regierung niemand anderes als Russland stehe, ja dass Iwanischwili und sein "Georgischer Traum" von Anfang an ein Projekt Russlands gewesen seien, um Georgien wieder in den Orbit Moskaus zu ziehen. Tatsächlich machte Iwanischwili seine Milliarden in den 90er Jahren in Russland, bevor er 2003 nach Georgien zurückkehrte.
Hoch oben auf die Wand des Parlaments wirft ein Projektor grün die Buchstaben "Russland, fick deine Mutter!" Unter den Demonstranten ist die Überzeugung weit verbreitet, dass es tatsächlich das Ziel Iwanischwilis sei, das Land, das einst Teil des Zarenreichs und der Sowjetunion war, wieder an Russland zu "verkaufen." Aber eben nur unter den Demonstranten: Das sind vor allem Menschen zwischen 20 und 40, die sich Richtung Westen orientieren, in Europa studieren, ihre Wochenenden per Billigflieger gerne in Berlin verbringen.
Bei anderen Georgiern verfängt die aggressive Propaganda des "Georgischen Traums", laut der der Westen versuche, Georgien wie die Ukraine in einen Krieg mit Russland zu ziehen, eine "zweite Front" zu eröffnen; Helfershelfer seien die vom Westen finanzierten NGOs und die Oppositionsparteien. Denn viele Georgier haben über die letzten Jahre von der Wiederannäherung an Russland profitiert – durch russische Touristen und Exportmöglichkeiten. Und seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs siedelten zehntausende besonders junge Russen nach Georgien über und brachten Kapital ins Land. Auf den regierungsnahen Fernsehsendern sehen die Georgier die Proteste denn auch in einem ganz anderen Licht: Von der massiven Polizeigewalt ist dort nichts zu sehen, stattdessen werden dort gewalttätige Demonstranten gezeigt, gesteuert von Oppositionellen.
Den Protesten fehlt eine zentrale Koordinierung
Gewalt von Seiten der Demonstranten gibt es tatsächlich: Silvesterraketen, Flaschen und andere Gegenstände fliegen in die Polizeireihen am Parlament. Und wie an jedem Abend beginnt die Polizei gegen elf Uhr abends mit der Räumung: Die Wasserwerfer rücken vor, Tränengasgranaten fliegen in Richtung der Demonstranten. Die ziehen sich Gasmasken über und schießen mit Raketen zurück, aber versuchen, auf Distanz zu bleiben.
Denn wer von den Polizisten erwischt wird, muss mit Prügel rechnen. Dutzende Menschen, darunter auch Journalisten, wurden in den letzten Tagen in die Krankenhäuser eingeliefert, hunderte festgenommen. Aber anders als 2014 während der Revolution in Kiew fehlt es den Georgiern bislang an Organisation: Es gibt kein festes Lager der Demonstranten, keine organisierten Gruppen, keine sichtbaren Anführer der Proteste.
Die proeuropäische Präsidentin Salome Surabischwili könnte eine solche Anführerin sein – sie hält sich bislang physisch von den Protesten fern, ruft aber das ganze Land dazu auf, sich ihnen anzuschließen. Die Regierung ist derweil dabei, Surabischwili loszuwerden: Schon im Dezember soll das vom "Georgischen Traum" dominierte Parlament einen neuen Präsidenten wählen: einen ehemaligen Fußballer, der für seine antiwestlichen Ausfälle bekannt ist.
Und auch andere Oppositionsführer versucht die Regierung auszuschalten: Am Mittwochnachmittag werden die Büros mehrerer Parteien und NGOs durchsucht und der Oppositionsführer Nika Gvaramia festgenommen. Das Regime eskaliert – und Georgien geht in seine siebte Protestnacht.