Israel kämpft ein Jahr nach dem 7. Oktober an vielen Fronten. Vier Menschen in Tel Aviv erzählen, wie sie bei Raketen ruhig bleiben und wie sie ihre eigene Zukunft sehen.
An Tel Avivs Strandpromenade bläst ein Mann mit Kippa in ein gekrümmtes Widderhorn. Die Köpfe der Jogger, Familien und Paare wenden sich um, einige zücken ihre Handys und filmen. Es ist Neujahr in Israel – das verrät nicht nur der Klang des Horns, der im ganzen Land von den Feiern jüdischer Gemeinden schallt. Auch Itay Resnik sitzt auf den Stufen, schaut abwechselnd zum Sonnenuntergang und zu dem Mann mit dem Horn. "Solche Traditionen machen, dass wir alle stolz und glücklich sind, hier zu sein", sagt der 25-Jährige. "Kann man mal gut gebrauchen, so zwischendurch im Krieg. Ein bisschen Moral", er grinst.
Der 7. Oktober, der Jahrestag der Massaker und Entführungen der Hamas, ist nur wenige Tage entfernt, und in Israel folgt ein religiöser Feiertag auf den nächsten. Der junge Mann – militärisch-korrekter Haarschnitt, Sporthose – hält eigentlich nicht viel von Traditionen, sagt er. Doch seit dem 7. Oktober sei das anders. "Ich gehe sonst zum Neujahr Party machen. Aber dieses Jahr saß ich einfach mit meiner Familie zusammen und wir haben ein traditionelles Abendessen gemacht. Jetzt fühlt es sich richtig an, zu Hause zu sein, bei den Verwandten und ein bisschen dazu zurückzufinden, wer wir als Israelis sind."
Resnik lauscht den Gesängen der Gemeinde auf der Promenade und raucht eine Zigarette. Eigentlich studiert er, zwischendurch wurde auch er in den Kampfeinsatz gerufen. Auch viele seiner Freunde sind Reservisten in der Armee, "die motivieren mich, durch sie weiß ich, wie stark wir als Land sind," sagt er. Es sei ein hartes Jahr gewesen. Aber jetzt gehe die Stimmung wieder nach oben. Ausgerechnet wenige Tage, nachdem der Iran fast 200 Raketen auf Israel schoss?
"Wir zeigen der Region wieder, wer wir sind"
Vor einem Jahr noch unvorstellbar, griff der Erzfeind nun schon zum zweiten Mal direkt an, statt über Stellvertreter-Milizen. "Wir haben gezeigt, dass wir das abwehren können. Und dass wir selbst härter treffen." Die Explosionen der Pager und Walkie-Talkies von Milizionären der Hisbollah im Libanon, die Tötung des Hisbollah-Chefs Nasrallah. "Wir kriegen alle paar Tage gute Neuigkeiten von Geheimdiensten und der Armee und zeigen den anderen in der Region wieder, wer wir sind. Das macht gute Laune."
Seit dem 7. Oktober, sagt Resnik, sei er vorsichtiger, was arabisch bewohnte Stadtteile angeht. Und das habe sich ausgezahlt. Am Abend der iranischen Attacke erschossen palästinensische Attentäter aus der Stadt Hebron an einer Bahnhaltestelle im arabisch bewohnten Stadtteil Jaffa sieben Menschen. "Ich gehe seit dem 7. Oktober nicht mehr nach Jaffa", sagt Resnik, "so wie es aussieht, wird das auch so bleiben."
Die Haltestelle in Jaffa ist mit Blumen geschmückt, Kerzen erleuchten den fast menschenleeren Bahnsteig. Ein junger Mann beugt sich über eine erloschene Kerze und zündet sie wieder an. Ivan Menjalin entzündet das Feuer immer neu, wenn es ausgehe, sagt er. Der 25-Jährige wohnt in der Nähe, kommt täglich an der Haltestelle vorbei.
Dass der Terror vor seiner Haustür ist, daran wolle er sich nicht gewöhnen. "Ich warte noch ein Jahr", sagt er. "Wenn das so weitergeht mit den Terrorattacken, dann ziehe ich weg aus Israel." Die Raketen seien für ihn weniger schlimm als Attentäter mit Gewehren und Messern. "Ich weiß, wie gut unser Luftabwehrsystem ist. Aber das mit den Terroristen ist persönlich. Ich will nicht Angst vor jedem haben müssen, der in meine Straßenbahn steigt." Menjalin sagt, so recht glaube er nicht mehr an Frieden. Er studierte Geschichte, lernte viel darüber, wie andere Länder Frieden schlossen, auch nach Jahrzehnten der Feindschaft. "Aber im Moment fühlt es sich nicht so an, als würde ich das noch miterleben.
Zu viert sitzen die Frauen im Stuhlkreis vorm Hotel, zünden sich gegenseitig ihre Zigaretten an und essen Feiertagskekse. Seit einem Jahr sind sie fern der Heimat, Nordisrael, wo die Hisbollah Raketen niedergehen lässt und die Israelische Armee zurückschießt. Nun ist sie in den Südlibanon einmarschiert und will die feindliche Miliz zurückdrängen. Angeblich ein begrenzter Krieg. Zivilisten im Libanon fürchten jedoch viele Tote, eine neue Besatzung. Und – wie auch die vier Frauen vor dem Hotel in Tel Aviv – einen langen Krieg.
Libanon Beirut Flucht Israel Michel 19.50
"Ich weiß nicht, ob ich bald zurück kann", sagt Margalit Malka, 67, "ich glaube es ehrlich gesagt nicht. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass wieder alles so wird wie früher." Selbst, ob sie nach Metula zurückkehren will, einem Ort nahe der Grenze zum Libanon, weiß sie nicht. "Ich war so lange weg, dass ich anfange, hier Wurzeln zu schlagen".
"Uns Leute aus dem Norden schockt nichts mehr"
In Israels Zentrum habe man wenigstens Zeit, in den Bunker zu rennen, anders als bei ihr zu Hause. "Als der Iran angegriffen hat, da haben wir wieder richtig gespürt: Stimmt, wir sind hier ja auch im Krieg. Nicht nur die Ränder Israels. Manchmal blendet man das hier am Strand aus. Und plötzlich flogen wieder Raketen." Es habe sich fast angefühlt wie Luxus, Zeit für den Weg in den Keller zu haben. Selbst die Kinder seien an dem Abend ruhig geblieben. "Die sind das gewohnt, so traurig es ist."
Eltern hätten ihren Kindern Erdnussflips mitgenommen, einige Erwachsene seien sogar nach draußen gelaufen, um die Raketen am Himmel zu sehen. "Uns Leute aus dem Norden schockt nichts mehr." Malka schüttelt den Kopf, als könne sie es selbst nicht glauben, was sie da sage. Die ganze Zeit versucht sie, ein Lächeln aufrechtzuerhalten. Dann greift sie wieder zu den Keksen. "Will noch eine? Wir haben schließlich Feiertage."
Ein kleiner Junge zeigt auf ein schwarz-gelbes T-Shirt, Yael Szlamowicz reicht es ihm. "7. Oktober, 6:29 Uhr", steht darauf geschrieben. Der Moment, als die Alarm-Signale kurz vor dem Hamas-Überfall in Israel ertönten. "Das T-Shirt hier kaufen besonders viele", sagt Szlamowicz, "weil sich in dem Moment das ganze Leben verändert hat, für uns alle in Israel." Auch für sie selbst.
Israels Premier Netanjahu hat versagt
Seit Oktober arbeitet sie als Freiwillige, verkauft T-Shirts und Armbänder, die Erlöse gehen an die Familien der Geiseln. "Die haben teilweise komplett aufgehört zu arbeiten, das ist das Mindeste, was ich tun kann." Selbst hat Szlamowicz keine Verschleppten oder getöteten Angehörigen. Trotzdem habe sie immer wieder Tiefpunkte. "Es ging mir sehr schlecht, als die sechs Geiseln im September erschossen wurden, kurz bevor die Armee sie gefunden hat. Das hat sich angefühlt, als machen wir das hier, ohne dass jemand zuhört."
Über Politik will sie nicht reden, der sogenannte "Platz der Geiseln" solle ein unpolitischer Ort sein, an dem alle willkommen seien. Eines sagt sie dann doch: "Der Premierminister hat diese Menschen ein ganzes Jahr nicht zurückgeholt. Man kann von ihm denken, was man will, aber das zeigt, dass er versagt hat." Yael Szlamowicz wolle den Angehörigen mit ihrer Arbeit helfen, bis die letzte Geisel heimgekehrt sei, sagt sie. "Ich bin erschöpft, aber andere sind erschöpfter. Dass der Jahrestag jetzt kommt und wir immer noch so viele Menschen vermissen, macht mich wütend. Und die Wut gibt mir Kraft."