Die EU-Innenminister haben heute nicht über die Chatkontrolle abgestimmt. Zu viele Staaten lehnen auch den aktuellen Vorschlag ab. Damit ist Ungarn im ersten Anlauf gescheitert, eine Einigung zu organisieren. Wir veröffentlichen ein eingestuftes Verhandlungsprotokoll.
Die EU-Institutionen streiten seit über zwei Jahren über eine verpflichtende Chatkontrolle. Die Kommission will Internetdienste verpflichten, die Inhalte ihrer Nutzer auf Straftaten zu durchsuchen und diese bei Verdacht an Behörden zu schicken. Das Parlament bezeichnet das als Massenüberwachung und fordert, nur unverschlüsselte Inhalte von Verdächtigen zu scannen.
Die EU-Staaten können sich bisher nicht auf eine gemeinsame Position einigen. Vor einem Monat hat die ungarische Ratspräsidentschaft vorgeschlagen, erstmal nur bekannte Straftaten zu suchen und andere Inhalte erst später.
Heute hat Ungarn die Justiz- und Innenminister über den Stand der Verhandlungen informiert. Inhaltlich wurde nichts Neues gesagt.
Vorbereitet haben das vor zwei Wochen die Referent:innen für Justiz und Inneres. Wir veröffentlichen ein weiteres Mal das eingestufte Protokoll der Verhandlungsrunde im Volltext.
Enttäuscht von Vorschlag
In der Sitzung haben die EU-Staaten „im Wesentlichen die bekannten Positionen wiederholt“. Eine Mehrheit der Staaten will die Chatkontrolle. Viele Staaten sind zufrieden mit dem Vorschlag und stimmen ihm zu.
Mehrere Staaten kritisieren, dass der Kompromissvorschlag die Chatkontrolle zu stark einschränkt. Griechenland ist „besorgt wegen der Beschränkung auf bekanntes Material“. Bulgarien und Litauen sind „nicht besonders glücklich“ mit dem Kompromiss und „hätten ein ambitionierteres Vorgehen bevorzugt“. Irland ist „grundsätzlich enttäuscht von dem neuen Vorschlag, er sei zu wenig ambitioniert“.
Diese Staaten unterstützen den Vorschlag trotzdem, um überhaupt eine Einigung zu erreichen. Irland kündigte aber bereits an, keine weiteren Zugeständnisse zu machen: „Dieser Kompromiss sei das Äußerste, was Irland noch mittragen werde.“
Mit Rechtsstaat unvereinbar
Andere Staaten lehnen den Vorschlag weiterhin ab. Deutschland verwies auf dem Beschluss der Bundesregierung, Client-Side-Scanning und Eingriffe in verschlüsselte Kommunikation abzulehnen. Letzte Woche betonte die FDP, die Chatkontrolle ist „nicht mit dem liberalen Rechtsstaat vereinbar“.
Polen lehnt den Kompromiss ebenfalls ab, vor allem „wegen der Vorschläge zum Scanning“, die es als Massenüberwachung bezeichnet. Tschechien hält „den Kompromiss weiterhin nicht für ausgewogen“. Für Luxemburg ist der Vorschlag „weiterhin nicht zustimmungsfähig“.
Die Niederlande haben seit Juli eine neue Regierung. Diese sieht „viele ihrer bisherigen Bedenken adressiert“ und bezeichnet den Vorschlag als Mehrwert. „Allerdings gelte noch ein Parlamentsvorbehalt.“ Letzte Woche hat sich das Parlament gegen die Chatkontrolle gestellt. Deshalb können die Niederlande den Vorschlag nicht unterstützen.
Österreich „bekräftigte seine grundsätzliche Ablehnung“. Vor zwei Wochen hat Österreich einen neuen Nationalrat gewählt. Auch nach der Wahl bleibt Österreich bei seiner Ablehnung. Eine neue Regierung kann das Thema zwar „neu bewerten“. Sie ist aber an einen Beschluss des Parlaments gebunden, der die Chatkontrolle ablehnt.
Prüfen und Vorbehalt
Befürworter und Gegner sind relativ festgefahren. Entscheidend sind einige Staaten, deren Position nicht klar und eindeutig ist.
Frankreich war erst für und dann gegen die Chatkontrolle. Seit einem Monat hat Frankreich eine neue Regierung. Wie Frankreich jetzt abstimmen würde, ist nicht öffentlich bekannt. In der Verhandlungsrunde hat Frankreich nur Fragen gestellt.
Italien hält sich ebenfalls bedeckt. Die Regierung scheint den Kompromiss zu befürworten, aber andere „Regierungsstellen“ sind noch „sehr skeptisch“. In der Sitzung erklärte Italien, „sich noch nicht äußern zu können, da die Prüfung des Textes noch andauere“.
Schweden zeigte sich „grundsätzlich einverstanden, legte aber Parlamentsvorbehalt ein“.
Maximum an Flexibilität
Damit hat der aktuelle Kompromissvorschlag weiterhin keine qualifizierte Mehrheit der EU-Staaten. Eine „einstimmige Entscheidung“ sieht die Ratspräsidentschaft ohnehin nicht „im Bereich des Möglichen“.
Ungarn stellte in der Sitzung „weitere bilaterale Treffen in Aussicht“, um kritische Staaten umzustimmen. „Dies sie die einzige realistische Möglichkeit, noch zu einem Beschluss des Rates zu kommen.“ Immerhin hätten die Befürworter „schon ein Maximum an Flexibilität gezeigt“.
Am Tag nach der Verhandlung präsentierte die Ratspräsidentschaft ihren Vorschlag als abstimmungsfertigen Gesetzentwurf. Eigentlich wollte Ungarn den Gesetzentwurf heute auf dem Rat der Justiz- und Innenminister beschließen.
Zeit wird knapp
Doch am Montag hat Ungarn einen Rückzieher gemacht. Mit dem Beschluss der Niederlande gibt es wieder keine ausreichende Mehrheit.
Im Ausschuss der Ständigen Vertreter verkündete die Präsidentschaft, das Gesetz heute doch nicht zu beschließen, sondern nur einen Zwischenstand zu präsentieren. Der ungarische Innenminister Sándor Pintér und die scheidende EU-Innenkommissarin Ylva Johansson plädierten dafür, eine Einigung zu finden.
Damit ist auch Ungarn mit seinem ersten Versuch einer Einigung gescheitert. Für diesen Fall hat Ungarn angekündigt, „ein ganz neues Konzept zu entwickeln“. Dafür wird aber „die Zeit knapp“.
Einerseits läuft die freiwillige Chatkontrolle aus. Andererseits ist die ungarische Ratspräsidentschaft schon wieder zur Hälfte um. Die nächste und letzte Chance für Ungarn ist im Dezember.
Hier das Protokoll in Volltext:
- Geheimhaltungsgrad: Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch
- Datum: 23.09.2024
- Von: Ständige Vertretung der BRD bei der EU
- An: Auswärtiges Amt
- Kopie: BMI, BMWK, BMDV, BMJ, BMFSFJ, BKAmt, BMF
- Betreff: Sitzung der JI-ReferentInnen RAGS-Polizei am 23. September
- Bezug: CM 4049/24
- Zweck: Zur Unterrichtung
- Geschäftszeichen: 421.30 + 350.80
Sitzung der JI-ReferentInnen RAGS-Polizei am 23. September
I. Zusammenfassung und Wertung
Die Verlängerung des Mandates des stellvertretenden Exekutivdirektors von Europol, Jean-Philippe Lecoufe, wurde angenommen.
Zu den RSF zur Umweltkriminalität bestand ROU in Ziff. 32 auf der Streichung des Verweises auf Interpol. Die von DEU geforderte Rücknahme der Streichung betr. Olaf in Ziff. 19 fand keinerlei Unterstützung. CYP, SWE, ITA, POL, SWE, ITA hatten kein Mandat, um Textänderungen zuzustimmen. HUN Vorsitz stellte daher ein Verschweigeverfahren in Aussicht.
Zur CSA–VO wurden im Wesentlichen die bekannten Positionen wiederholt. Neben DEU bestätigten AUT, POL, LUX, CZE ihre bekannten Positionen und bekräftigten, dem jetzt vorliegenden Kompromiss nicht zustimmen zu können. NLD und ITA erläuterten, der Vorschlag werde dort weiter geprüft. SWE legte Parlamentsvorbehalt ein. HUN Vorsitz kündigte an, dem AStV in jedem Fall für seine Sitzung am 2. Oktober eine Note zur weiteren Beratung vorlegen zu wollen.
II. Handlungsempfehlungen
entfällt
III. Im Einzelnen
[…]
TOP 3: Vorschlag für eine Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern (CSA–VO)
HUN Vorsitz bat um allgemeine Anmerkungen zum vorliegenden Kompromissvorschlag.
FRA und AUT fragten, wie sich die derzeit vorgeschlagenen Fristen für die vorgesehene Überprüfungsklausel (review clause) und die Evaluierung und mögliche Revision der gesamten VO in der Praxis koordinieren ließen, derzeit ergebe sich eine Überschneidung der Fristen von einem Jahr.
HUN Vorsitz erläuterte, dass die im Rahmen der „review clause“ vorgesehene Bewertung auch schon früher vorgenommen werden könne. Das hinge in der Praxis letztlich davon ab, ob die MS die Bewertung schon eher von der KOM fordern würden.
IRL zeigte sich grundsätzlich enttäuscht von dem neuen Vorschlag, er sei zu wenig ambitioniert. Dieser Kompromiss sei das Äußerste, was IRL noch mittragen werde. Die in der „review clause“ vorgesehen Frist sei zu lang. Außerdem sei der Begriff der „best endeavours“ in Art. 84 unklar und müsse erläutert werden.
HUN Vorsitz erläuterte erneut, bei den Fristen für die „review clause“ flexibel zu sein und sie auch auf drei oder vier Jahre anzusetzen. Man könne letztlich auch auf Anforderung von den Fristen abweichen, die Frage sei nur, wie umfassend die Datenlage nach drei Jahren schon sein könne.
IRL, ESP, GRC sprachen sich jeweils für drei Jahre aus. HRV für zwei oder drei Jahre, aber dies sei keine rote Linie
ROU unterstützte eine Drei-Jahres Frist und zeigte sich im Übrigen zufrieden mit dem Kompromisstext. GRC war besorgt wegen der Einschränkung des Anwendungsbereiches und insbesondere wegen der Beschränkung der Aufdeckungsanordnungen auf bekanntes Material, wollte aber letztlich zustimmen. EST zeigte sich grundsätzlich mit dem Kompromiss zufrieden.
NLD erläuterte, dass die neue NLD Regierung jetzt mit dem Text viele ihrer bisherigen Bedenken adressiert sähe. Der Text habe nun für NLD einen Mehrwert. Allerdings gelte noch ein Parlamentsvorbehalt.
Für DEU wurde weisungsgemäß auf die bekannte Position verwiesen, der Text sei wegen des weiterhin enthaltenen Client-Side-Scanning und wegen der Eingriffe in verschlüsselte Kommunikation grundsätzlich nicht zustimmungsfähig. Außerdem wurde Prüfvorbehalt zu den weiteren neuen Vorschlägen, insbesondere der „review clause“ eingelegt. Die Beschränkung auf bekanntes Material wurde unter Verweis auf den Prüfvorbehalt begrüßt.
Auch für LUX war der Text weiterhin nicht zustimmungsfähig, ebenso für POL, das ebenfalls v.a. wegen der Vorschläge zum Scanning den Kompromiss ablehnte. POL begrüßte wie DEU die Beschränkung auf bekanntes Material. Auch AUT bekräftigte seine grundsätzliche Ablehnung, auch nach der Wahl in AUT werde die Position dieselbe bleiben, bis eine neue Regierung diese neu bewerte. CZE hielt den Kompromiss weiterhin nicht für ausgewogen.
SVK, SVN, LVA unterstützen IRL und ESP. FIN erläuterte, bereits mit dem BEL Vorschlag zufrieden gewesen zu sein, aber auch diesen Vorschlag mitzutragen.
BGR und LTU äußerten, nicht besonders glücklich mit dem Text zu sein, sie hätten ein ambitionierteres Vorgehen bevorzugt, würden aber den Text jetzt mittragen, um in den Verhandlungen vorwärts zu kommen. SWE war ebenfalls grundsätzlich einverstanden, legte aber Parlamentsvorbehalt ein. MLT äußerte sich ebenfalls zustimmend, bat aber KOM um Einschätzung, wie sie die nun vorgesehene Rolle des Zentrums bewerte.
Auf Nachfrage FRA erläuterte JD-Rat, dass die temporäre Ausnahme eben nur eine Ausnahme von der e-Privacy-RL sei und deswegen in dem Bereich, für den sie gelte, die DSGVO Anwendung finde.
ITA erklärte als letzter wortnehmender MS, sich noch nicht äußern zu können, da die Prüfung des Textes noch andauere.
KOM erklärte, immer noch einen Mehrwert in dem Text zu sehen, auch wenn er deutlich an Ambition verloren habe. Aber der vorliegende Vorschlag sei ein guter Weg, mit den Verhandlungen vorwärts zu kommen. Auf die MLT Frage antwortete KOM, das Zentrum werde immer noch wichtige Arbeit leisten können. Unter anderem werde beim Austausch bester Praktiken und bei der Unterstützung von Opfern eine große Rolle spielen können. KOM habe eine Fünf-Jahres-Frist für die „review clause“ vorgeschlagen, wäre aber auch bereit, für einzelne Punkte schon nach drei Jahren Bewertungen vorzulegen, wenn das der Wunsch der MS sei.
Auf die Fragen von IRL und FIN, was in Art. 84 unter „best endeavours“ zu verstehen sei, erläuterte KOM, damit seien die jeweiligen Möglichkeiten der Provider gemeint, über die von ihnen entwickelten Technologien an die KOM zu berichten. Diese seien naturgemäß je nach Größe des Providers unterschiedlich.
HUN Vorsitz schlug vor „best endeavours“ zu streichen, die Provider müssten dann immer noch Informationen liefern.
Außerdem stelle HUN Vorsitz weitere bilaterale Treffen in Aussicht. Dies sie die einzige realistische Möglichkeit, noch zu einem Beschluss des Rates zu kommen. Die Staaten, die dem Kompromiss jetzt zustimmten, hätten schon ein Maximum an Flexibilität gezeigt. Selbstverständlich habe der Vorsitz Respekt für alle geäußerten Positionen. Dennoch müsse Vorsitz konstatieren, dass man in diesem Dossier eine qualifizierte Mehrheit anstreben müsse, da eine einstimmige Entscheidung nicht im Bereich des Möglichen liege. Wenn auf der jetzt vorliegenden Textbasis keine Einigung gelinge, dann müsse Vorsitz versuchen, ein ganz neues Konzept zu entwickeln, aber dafür werde mit Blick auf das Auslaufen der Interims-VO bereits jetzt die Zeit knapp.
HUN Vorsitz stelle in Aussicht, in jedem Fall bald eine Note vorzulegen, auf deren Grundlage der AStV am 2. Oktober erneut beraten könne.
Die Arbeit von netzpolitik.org finanziert sich zu fast 100% aus den Spenden unserer Leser:innen.
Werde Teil dieser einzigartigen Community und unterstütze auch Du unseren gemeinwohlorientierten, werbe- und trackingfreien Journalismus jetzt mit einer Spende.