Einige EU-Staaten wollen die verpflichtende Chatkontrolle erstmal auf bekannte Inhalte beschränken, damit das Gesetz endlich kommt. Andere Staaten lehnen es weiterhin ab, Inhalte Unverdächtiger zu kontrollieren und Verschlüsselung zu umgehen. Wir veröffentlichen ein eingestuftes Verhandlungsprotokoll.
Zwei Monate hatten wir etwas Ruhe von der Chatkontrolle. Nach der Sommerpause geht die Auseinandersetzung in der EU weiter.
Die Kommission will seit über zwei Jahren Internetdienste verpflichten, die Inhalte ihrer Nutzer auf Straftaten zu durchsuchen und bei Verdacht an Behörden zu schicken. Das Parlament bezeichnet das seit fast einem Jahr als Massenüberwachung und fordert, nur unverschlüsselte Inhalte von Verdächtigen zu scannen.
Die EU-Staaten können sich bisher nicht auf eine gemeinsame Position einigen. Mehrere Ratspräsidentschaften sind daran gescheitert, eine Einigung zu erzielen. Jetzt versucht es Ungarn.
Vor zwei Wochen haben die Ständigen Vertreter über einen neuen Vorschlag verhandelt. Wir veröffentlichen ein weiteres Mal das eingestufte Protokoll der Verhandlungsrunde im Volltext.
Neues Material und Grooming vertagen
Die EU-Kommission fordert, dass Internetdienste die Inhalte ihrer Nutzer auf drei Arten strafbarer Inhalte durchsuchen: bekannte Kinderpornografie, neues Material und Grooming. Für bekanntes Material gibt es etablierte Systeme, unverschlüsselte Inhalte mit Hashes abzugleichen. Schon diese Technik wird kritisiert.
Um bisher unbekannte Straftaten und „Tätigkeiten zur Kontaktaufnahme zu Kindern“ zu suchen, sollen Internetdienste „künstliche Intelligenz“ nutzen. Die Bundesregierung kritisiert, dass die Erkennung dieser Inhalte „nicht fehlerfrei möglich“ ist. Die Niederlande lehnen die Suche nach diesen Inhalten kategorisch ab.
Die ungarische Ratspräsidentschaft schlägt jetzt vor, dass Dienste-Anbieter zunächst nur bekannte Straftaten suchen müssen. Neues Material und Grooming soll erst später verpflichtend werden, wenn die Technik gut genug ist.
Alle anderen Probleme der Chatkontrolle ignoriert Ungarn.
Grenze der Kompromissbereitschaft
Schon bisher unterstützen die meisten EU-Staaten die Chatkontrolle. Eine Mehrheit der Staaten stimmt auch den neuen Vorschlag zu.
Zehn Staaten betonen sogar, „dass mit dem vorliegenden Vorschlag die Grenze der Kompromissbereitschaft für sie erreicht sei“. Darunter sind Spanien, Rumänien und Griechenland. Irland ist „über die Herausnahme von neuem Material und Grooming nicht glücklich, könne dies aber im Sinne einer Kompromissfindung mittragen“.
Die EU-Kommission betont, dass ihr Gesetzentwurf und der aktuelle Vorschlag auch verschlüsselte Inhalte umfassen. Die Kommission findet es „weiterhin notwendig, die Möglichkeit der Aufdeckung in kryptierter Kommunikation zu haben“ – also Verschlüsselung auszuhebeln.
Problem der Massenüberwachung
Andere Staaten lehnen auch den aktuellen Vorschlag ab. Sechs Staaten „erklärten, dem Vorschlag wegen grundsätzlicher Bedenken nicht zustimmen zu können“.
Die Bundesregierung hat letztes Jahr eine Reihe an Forderungen aufgestellt, ohne die Deutschland dem Gesetz nicht zustimmen kann. Dazu zählen unter anderem, Verschlüsselung zu schützen und Client-Side-Scanning abzulehnen. Erst im Juni hat das Innenministerium klargestellt: „Verschlüsselte private Kommunikation von Millionen Menschen darf nicht anlasslos kontrolliert werden.“
Österreich erklärte ebenfalls, „nicht zustimmen zu können“. Das Parlament in Wien hat vor zwei Jahren gefordert, dass „keine generellen Überwachungspflichten für Online-Plattformenbetreiber über die Inhalte ihrer Nutzer:innen eingeführt werden und eine vertrauliche, insbesondere Ende-zu-Ende verschlüsselte, Kommunikation im Internet zwischen Nutzer:innen gewahrt bleibt“. Österreichs Regierung ist an diesen Beschluss gebunden.
Bedenken weiterhin nicht ausgeräumt
Auch Polen, Slowenien und Luxemburg „sahen nach wie vor keine ausreichende Verhältnismäßigkeit und das Problem der Massenüberwachung. Eine Zustimmung sei daher nicht möglich.“ Estland lehnt den Vorschlag ebenfalls ab, „wegen der Gefahr der Massenüberwachung und der Beibehaltung von Client-Side-Scanning/Upload-Moderation“.
Der Juristische Dienst der EU-Staaten unterstützt die Kritiker. Die Experten kamen letztes Jahr zu dem Fazit, dass die Chatkontrolle grundrechtswidrig ist und vor Gericht scheitern wird. Diese Bedenken sind „weiterhin nicht ausgeräumt“. Die Juristen glauben weiter, „dass der Vorschlag einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalte“ – also illegal ist.
Damit der Rat seine Position zum Gesetzentwurf beschließen kann, muss eine qualifizierte Mehrheit der Staaten zustimmen. Vier Staaten mit 35 Prozent der EU-Bevölkerung können eine Sperrminorität bilden. Die sechs kritischen Staaten haben zusammen aber nur knapp 30 Prozent der Bevölkerung. Es fehlen also noch bevölkerungsreiche Staaten.
Sperrminorität weiterhin möglich
Mehrere EU-Staaten haben noch nicht entschieden, ob sie den neuen Vorschlag befürworten oder ablehnen.
Frankreich war erst für die Chatkontrolle, dann dagegen. Frankreich hat vor zwei Monaten ein neues Parlament und seit zwei Wochen einen neuen Premierminister, der noch eine Regierung bilden muss. Wie sich die neue Regierung zur Chatkontrolle positioniert, ist noch nicht bekannt. Im Rat verwies Frankreich „auf eine anhaltende nationale Debatte“. Frankreich drängt aber auf eine zeitnahe Einigung und kritisiert die Position des EU-Parlaments als „nicht akzeptabel“.
Italien gibt sich „vorsichtig positiv“, verweist jedoch „auf schwierige nationale Diskussionen“. In Italien sind „national noch einige Regierungsstellen sehr skeptisch“.
Die Niederlande bezeichnen den neuen Vorschlag als „ermutigend“. Auch dort gibt es seit zwei Monaten eine neue Regierung. Die Verhandler verweisen deshalb „auf noch ausstehende nationale Abstimmungsprozesse“. Belgien prüft den Vorschlag noch, vor allem „hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit“. Tschechien verweist ebenfalls auf „eine sehr kontroverse Debatte über das Thema“.
Wenn entweder Frankreich oder Italien – oder zwei Staaten von Niederlande, Belgien und Tschechien – den neuen Vorschlag ablehnen, gibt es weiterhin keine Mehrheit im Rat.
Einigung in drei Wochen?
Die ungarische Ratspräsidentschaft hält an ihrem optimistischen Zeitplan fest. Eigentlich wollte Ungarn den Vorschlag „auf technischer Ebene weiter verhandeln“. Das wäre die Rats-Arbeitsgruppe Strafverfolgung. Die tagte heute, hat aber die Chatkontrolle nicht behandelt.
Stattdessen sollen am Montag die Berater für Justiz und Inneres über den ungarischen Vorschlag verhandeln. Geht es nach Ungarn, sollen danach die Ständigen Vertreter und am 10. Oktober die Justiz- und Innenminister die Position des Rats beschließen. Frankreich und Schweden sind „ausdrücklich“ dafür.
Hier das Dokument in Volltext:
- Geheimhaltungsgrad: Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch
- Datum: 04.09.2024
- Von: Ständige Vertretung der BRD bei der EU
- An: Auswärtiges Amt
- Cc: BMI, BMJ, BMWK, BMDV, BMFSFJ, BKAmt, BMF
- Betreff: 2952. AStV-2 am 04.09.2024
- Hier: TOP 5: Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern
- Zweck: Zur Unterrichtung
- Geschäftszeichen: 421.30 + 350.80
AStV-2 am 04.09.2024
I. Zusammenfassung und Wertung
Vorsitz bat um Zustimmung dazu, auf Basis des bereits unter BEL Vorsitz erarbeiteten Textvorschlags und den mit Dok. 12319/24 vorgelegten Änderungen weiter am VO-Vorschlag arbeiten zu können.
Zustimmung dazu wurde von einer Mehrheit der MS signalisiert.
Hierbei machten IRL, GRC, DNK, ROU, LVA, HRV, CYP, LTU, MLT und ESP deutlich, dass mit dem vorliegenden Vorschlag die Grenze der Kompromissbereitschaft für sie erreicht sei. Schließlich benötige man einen Rechtsrahmen, der einen deutlichen Mehrwert gegenüber der derzeitigen Regelung darstelle. FRA unterstrich, dass die Position des EP unter diesem Gesichtspunkt nicht akzeptabel sei.
Ich verwies auf die bekannte DEU Position.
LUX, AUT, EST, SVN und POL erklärten, dem Vorschlag wegen grundsätzlicher Bedenken nicht zustimmen zu können.
ITA gab sich vorsichtig positiv, verwies jedoch ähnlich wie CZE auf schwierige nationale Diskussionen. Eine Positionierung könne erst anhand eines konkreten Textvorschlag erfolgen.
NLD nannte den Vorschlag ermutigend, jedoch müsse man noch notwendige Genehmigungen einholen.
Auf Bitte insbesondere von AUT verwies JD auf seine schriftliche Stellungnahme. Die dort geäußerten Bedenken seien weiterhin nicht ausgeräumt.
Vorsitz schlussfolgerte es bestehe allgemeine Bereitschaft, auf der Grundlage des vorgelegten Vorschlages auf technischer Ebene weiter zu verhandeln. Vors kündigte an, Anfang nächster Woche einen vollständigen Textvorschlag vorzulegen. Eine weitere Befassung des AStV könne Ende September/Anfang Oktober erfolgen. Ziel sei weiterhin eine partielle allgemeine Ausrichtung möglichst beim JI-Rat im Oktober.
II. Im Einzelnen
Vorsitz unterstrich eingangs, dass das Dossier weiterhin eine der Prioritäten für die HUN Präsidentschaft sei. Man stelle immer wieder fest, dass es eine breite Unterstützung für das Ziel des Kinderschutzes gebe. Mehrere Präsidentschaften hätten versucht, einen ausgewogenen Text zu erarbeiten. Mit dem jetzigen Vorschlag versuche man, weitere Bedenken auszuräumen. Vorsitz benötige aber ein klares Signal, dass man den Weg fortsetzen solle, um vor Auslaufen der Interims-VO zu einem Ergebnis zu kommen.
KOM unterstrich, dass man das grundsätzliche Ziel des Vorschlags nicht aus den Augen verlieren dürfe. Die Meldungen von kinderpornografischem Material seien weiterhin stark steigend. Hinzu kämen neue Modi operandi wie KI-generiertes Material und live gestreamter Missbrauch von Kindern in Drittstaaten. Es müsse den MS auch klar sein, dass sich die VO an die Anbieter richte. Strafverfolgungsbehörden kämen erst ins Spiel, wenn das geplante EU-Zentrum das gemeldete Material geprüft und verifiziert habe. Es sei aus Sicht der KOM weiterhin notwendig, die Möglichkeit der Aufdeckung in kryptierter Kommunikation zu haben. Ansonsten sei zu befürchten, dass bei einer zunehmenden Verschlüsselung durch Diensteanbieter deutlich weniger kriminelles Material aufgedeckt werden könne. Man dürfte insgesamt nicht zulassen, dass die EU ein sicherer Hafen für die Verbreitung von kinderpornografischem Material werde.
IRL dankte dem HUN Vorsitz sowie den vorherigen Präsidentschaften für die harte Arbeit an dem VO-Vorschlag. Man sei über die Herausnahme von neuem Material und grooming nicht glücklich, könne dies aber im Sinne einer Kompromissfindung mittragen. Wichtig sei dann aber eine deutliche Formulierung der review clause einschließlich eines klaren Zeitrahmens. Die VO müsse einen Mehrwert bringen. Daher solle die KOM nicht nur „eingeladen“ werden, sondern ein klares Mandat für einen späteren (ergänzenden) Vorschlag erhalten. In ähnlicher Weise argumentierten GRC, DNK (mit dem Hinweis, dass dann im Trilog nicht noch mehr aufgeben dürfe), ROU, LVA, HRV, CYP, LTU, MLT (mit dem Hinweis, dass man kein EU-Zentrum ohne Aufgaben brauche), SVK, BGR und ESP.
Ich verwies auf die bekannte DEU Position.
BEL erklärte ebenso wie PRT die Bereitschaft, am Text weiter zu arbeiten. BEL prüfe den Vorschlag aber hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit. Zudem habe BEL Bedenken, dass das EP einer Verlängerung der Interims-VO ggf. nicht zustimmen werde.
SWE und FIN unterstützten grundsätzlich, sprachen sich aber für weitere Arbeiten auf technischer Ebene aus. Letzterem schloss sich ITA mit dem Hinweis, dass national noch einige Regierungsstellen sehr skeptisch seien, an. Für ITA ginge der Vorschlag auf den ersten Blick jedoch in die richtige Richtung.
Auch CZE sah Fortschritte. Man benötige aber einen konkreten Text, um die Frage der Verhältnismäßigkeit zu klären. Es sei gut, dass nun nur noch bekanntes Material in den Anwendungsbereich falle. Auch in CZE werde eine sehr kontroverse Debatte über das Thema geführt.
AUT erklärte, nicht zustimmen zu können. Man habe hierzu auch eine bindende Stellungnahme des nationalen Parlaments. Der Vorschlag zeige gute Ansätze, jedoch gebe es weiterhin Bedenken hinsichtlich der Ausgestaltung der Aufdeckungsanordnung. Hier sei man an einer Einschätzung des JD interessiert (ebenso SVN).
LUX, POL und SVN sahen nach wie vor keine ausreichende Verhältnismäßigkeit und das Problem der Massenüberwachung. Eine Zustimmung sei daher nicht möglich. LUX begrüßte dennoch die Beschränkung auf bekanntes Material.
EST gab sich ebenfalls ablehnend wegen der Gefahr der Massenüberwachung und der Beibehaltung von Client-Side-Scanning/Upload moderation.
NLD sah erhebliche Fortschritte („encouraging“), verwies aber auf noch ausstehende nationale Abstimmungsprozesse.
FRA verwies ebenfalls auf eine anhaltende nationale Debatte. Hier ginge es allerdings eher darum, dass dringend etwas gegen Kinderpornografie unternommen werden müsse. Der Rat brauche einen guten Text mit Mehrwert. Die EP Position biete überhaupt keinen Mehrwert und dürfe daher nicht akzeptiert werden. Die review clause sei umso wichtiger, da die Technik sich ständig weiterentwickle. FRA plädiere ausdrücklich für eine allgemeine Ausrichtung beim JI-Rat im Oktober (ebenso SWE).
JD verwies auf die bestehende schriftliche Stellungnahme. Man habe weiterhin Bedenken, dass der Vorschlag einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalte. Dies gelte sowohl für die Aufdeckungsanordnung als auch den vorgeschlagenen user consent.
Vorsitz schlussfolgerte die Bereitschaft der MS, am Vorschlag unter Rückgriff auf den BEL Text und auf die nun vorgelegten Änderungen weiter zu arbeiten. Man wolle schnellstmöglich, vorzugsweise im Oktober, eine partielle allgemeine Ausrichtung erreichen. Den Ruf insbesondere nach einer starken review clause habe man vernommen. Ein neuer Textentwurf werde Anfang der nächsten Woche vorgelegt. Den AStV werde man vermutlich Ende September/Anfang Oktober wieder mit dem Dossier befassen.
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