Der Attentäter von Magdeburg war bereits zuvor auffällig geworden. Ein Experte äußert eine Vermutung, warum er trotzdem durchs Raster gefallen sein könnte.
Hätte der Anschlag von Magdeburg verhindert werden können? Die Debatte nimmt nach dem Attentat am vergangenen Freitag, bei dem fünf Menschen starben und mehr als 200 verletzt wurden, an Fahrt auf. Denn immer mehr Informationen dringen an die Öffentlichkeit, die den Verdacht nahelegen, dass es im Vorfeld zu einer Häufung von Pannen gekommen sein könnte.
Dabei geht es nicht nur darum, ob das Sicherheitskonzept des Magdeburger Weihnachtsmarktes genügte, ob etwa die angebrachten Sicherheitspoller ausreichend waren. Sondern auch darum, ob die Sicherheitsbehörden im Vorfeld grobe Fehler gemacht haben – denn bereits zuvor war der mutmaßliche Täter Taleb A. mehrfach auffällig. Haben die Behörden Hinweise übersehen oder sind diesen nicht ausreichend nachgegangen?
Magdeburg Sicherheitskonzept Kommentar 09.16
Es müsse minutiös nachvollzogen werden, "warum wir da nicht vorher haben wachsam sein können", fordert nun etwa Lars Castellucci, Innenpolitiker der SPD, im "Morgenmagazin" des ZDF. Für die Politik ist der Zeitpunkt sensibel, der Anschlag fällt in die Zeit des Wahlkampfes. Bislang, das ist auffällig, mühen sich die meisten Parteien um Besonnenheit und Zurückhaltung – besser keine voreiligen Schlüsse, das scheint die Devise.
Magdeburg-Attentäter: Sein Hass auf den deutschen Staat wuchs
Anders als beim Anschlag in Solingen im August, als ein Angreifer auf einem Stadtfest drei Menschen erstach, dreht sich die Diskussion dieses Mal, zumindest bislang, nicht vornehmlich um Zuwanderung. Das liegt auch am Profil des Täters von Magdeburg: Bei Taleb A., der 2006 aus Saudi-Arabien nach Deutschland kam, ist nicht von einem islamistischen Motiv auszugehen. Der anerkannte Flüchtling, der hierzulande als Arzt arbeitete, fiel in der Vergangenheit mit deutlicher Kritik am Islam auf und retweetete auf der sozialen Plattform "X" vielfach Aussagen von AfD-Politikern, die die Migration nach Europa verurteilten.
Dabei richtete sich der Hass des 50-Jährigen in den vergangenen Jahren offenkundig immer mehr gegen den deutschen Staat, auch Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen lassen sich aus seinen in Interviews und in den sozialen Medien getätigten Aussagen ablesen.
Heikel in diesem Fall: Zu Taleb A. waren zahlreiche Warnhinweise eingegangen. So bestätigte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge inzwischen, dass es bereits 2023 einen Hinweis auf die Gefährlichkeit von A. erhalten hatte. Auch der saudi-arabische Geheimdienst soll die deutschen Behörden mehrmals vor dem Mann gewarnt haben. Wurden diese Warnungen nicht ausreichend geprüft?
Fest steht: Taleb A. war bereits wegen einer Drohung zu einer Geldstrafe verurteilt worden, wie der Innenminister von Sachsen-Anhalt, Christian Pegel (SPD), bestätigte. A., der damals in Mecklenburg-Vorpommern lebte, lag 2013 im Streit mit der Ärztekammer des Landes wegen der Anerkennung von Prüfungsleistungen. Damals drohte er etwas "Schlimmes mit internationaler Bedeutung" an, und verwies dabei auch auf den Anschlag auf den Boston-Marathon 2013, so zitiert die "Welt" aus dem Urteil des Amtsgerichts Rostock.
Experte: Menschen wie Taleb A. "passen da nicht gut rein"
Einer Kommunalbehörde in Stralsund, wo Taleb A. um finanzielle Unterstützung bat, soll er demnach in ähnlicher Weise gedroht haben. Daraufhin habe es laut Aussagen von Pegel eine sogenannte Gefährderansprache gegeben. Von der Polizei sei A. dabei mitgeteilt worden, dass man einen genaueren Blick auf ihn haben werde. Als Gefährder eingestuft wurde der Mann allerdings nicht. Die Ermittlungen hätten damals keine Hinweise auf reelle Anschlagsvorbereitungen ergeben, so Pegel. Und sie hätten keine Bezüge zu einer islamistischen Einstellung offenbart.
Übersah man die Gefahr deshalb, weil sich Taleb A. nicht in die Kategorie des Islamisten einfügen ließ? Der Terrorexperte Peter R. Neumann sieht hier einen Ansatzpunkt: "In Deutschland denkt man sehr stark in etablierten, starren Kategorien: Rechtsextremist, Linksextremist, Islamist", sagte der Wissenschaftler vom Londoner King's College dem "Spiegel". Menschen wie Taleb A. "passen da nicht gut rein."
Auf "X" postete Neumann einen Vorschlag: In Großbritannien hätten die Behörden eine spezielle Kategorie entwickelt, Gefährder mit "gemischter, unklarer und instabiler Ideologie". Hierzulande wurde zwar die zusätzliche Kategorie "Delegitimierung des Staates" eingeführt, doch Neumann erachtet die britische Einstufung als zielführender. Vielleicht könne eine solche Kategorie dazu beitragen, "scheinbar 'wirre' und ambivalente Attentäter wie den von Magdeburg stärker in den Fokus der Sicherheitsbehörden zu rücken".
Auch in der Politik scheint das bereits angekommen zu sein. Konstantin Kuhle, Innenpolitiker der FDP, sagte im "Deutschlandfunk", es gebe in den Behörden "Ohnmacht", wie mit Menschen umgegangen werden soll, die über Jahre in wirrer Art und Weise auch Gewaltdrohungen äußerten.
Der Tag nach dem Anschlag 21:44
Der SPD-Innenpolitiker Sebastian Fiedler äußerte sich ähnlich: Er predige das schon seit vielen Jahren, sagte der ehemalige Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter dem stern. "Wir brauchen an allen Stellen ein professionelles Management von Personen, die ein Risiko in sich bergen, zum Gewalttäter zu werden." Fiedler verweist auf das Projekt "PeRiskoP" aus Nordrhein-Westfalen, "obgleich es offenkundig in Solingen versagt" habe. Mit diesem Konzept sollen risikoträchtige Personen auch losgelöst von politischen oder religiösen Motiven frühzeitig erkannt werden.
Sondersitzung im Innenausschuss
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sieht auch in der fehlenden Vorratsdatenspeicherung ein Versäumnis. Es brauche einen neuen Anlauf bei der Vorratsdatenspeicherung, sagte er dem stern. "Es muss möglich sein, IP-Adressen zur Bekämpfung von schweren Straftaten wie dem Anschlag in Magdeburg zu speichern."
Was genau im Vorfeld des Attentats geschah – oder nicht geschah – soll nun geklärt werden. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat am Sonntag angekündigt, dass bei der Aufarbeitung des Anschlags von Magdeburg "durch die Bundesbehörden jeder Stein umgedreht" werde. Am kommenden Montag wollen sich der Innenausschuss des Bundestages und das Parlamentarische Kontrollgremium, das über die Nachrichtendienste wacht, mit dem Attentat in der sachsen-anhaltinischen Landeshauptstadt beschäftigen.
Terrorexperte Neumann weist noch auf ein grundsätzliches Problem hin: Die meisten Einzeltäter fielen vor ihrem Anschlag schon öffentlich auf. "99 Prozent von ihnen werden ihre Drohungen aber wahrscheinlich nie in die Tat umsetzen", sagte er im "Spiegel". Wie man das eine Prozent erkennen könne, das tatsächlich gefährlich ist, darauf habe noch niemand eine gute Antwort gefunden. "Ein Teil der Lösung ist möglicherweise Technologie", sagt Neumann. "Ein weiterer Teil ist, dass die Sicherheitsbehörden die richtigen Leute einstellen, zum Beispiel mehr Psychologinnen und Psychologen." Sicher ist: Es werden Lehren zu ziehen sein aus dem Anschlag in Magdeburg.