Putins Armee kämpft mit enormen Verlusten. Doch die Kriegswirtschaft produziert mehr, als an der Front verbraucht wird. "Geht es so weiter, dann ist Russland 2029 in der Lage, gegen die NATO in großem Maßstab anzutreten", sagt Generalmajor Ohl im Gespräch mit ntv.de. Kann die Bundeswehr-Brigade für Litauen eine Antwort auf diese Bedrohung sein?
ntv.de: Herr General, eine Brigade mit 4800 Soldatinnen und Soldaten nach Litauen verlegen - das klingt enorm aufwendig. Darum zunächst mal die Frage: Warum brauchen wir die dort?
General Wolfgang Ohl: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und sein Umfeld haben immer wieder deutlich gemacht, dass der Zerfall der Sowjetunion aus ihrer Sicht die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Nun geht es ihm offensichtlich darum, ein Modell aus dem 19. Jahrhundert wieder in Kraft zu setzen. Jede Großmacht hat darin ihren Einflussbereich, innerhalb dessen bestimmt sie die Regeln, und die kleineren Staaten haben sich dem zu fügen. Ex-Präsident Medwedew spricht über Russlands baltic provinces - die baltischen Provinzen. So hart es ist, es geht hier nicht um einen Regionalkonflikt Russland versus Ukraine, sondern um einen ersten Dominostein in dem Versuch Putins, Russland in der ursprünglichen Größe der Sowjetunion wiederherzustellen. Dem müssen wir ins Auge schauen, das geht nicht weg.
Nun tun wir ja nicht nichts bislang. 2017 hat die NATO beschlossen, in den drei Baltenstaaten und in Polen jeweils ein Bataillon, eine sogenannte battlegroup zu stationieren. Warum reicht das aus NATO-Sicht nicht mehr aus - Stichwort "Stolperdraht"?
Diesem Gedanken gehorchten tatsächlich diese battlegroups - einen Stolperdraht oder tripwire im Baltikum zu ziehen. Nach dem Motto: Wenn jemand angreift, kann ein Bataillon ein Gebiet von der in Rede stehenden Größe keinesfalls allein verteidigen. Klar ist dann aber: Der Angreifer begibt sich in einen Konflikt mit der gesamten NATO. Doch nach der Vollinvasion Russlands in der Ukraine 2022 hat die NATO gesagt: Das reicht nicht mehr, ein Stolperdraht allein reicht nicht mehr. Auch angesichts der besonderen geografischen Lage des Baltikums.
Die besondere Lage führt direkt zum nächsten Stichwort: Suwalki-Lücke?
Die drei baltischen Staaten grenzen im Norden an Russland, dann an Belarus, dann kommen 65 Kilometer gemeinsame Grenze Litauens mit Polen und westlich davon Kaliningrad als russische Enklave an der Ostsee. Das heißt, die einzige Verbindung des NATO-Gebiets mit dem Baltikum ist dieser schmale Landstreifen von 65 Kilometern. Das ist ein Nadelöhr, das man durchqueren muss. Wem es gelingt, diese Enge zu beherrschen, der beherrscht die drei baltischen Staaten. Wären die erstmal abgeschnitten auf dem Landweg, dann würde der Zugang erheblich erschwert, nur noch auf dem Luftweg oder über die Ostsee möglich.
Weiß man, was die Russen in Kaliningrad für so einen Fall bereitgestellt haben?
Die Russen, soviel kann ich sagen, haben militärisch so geplant, dass sie uns den Zugang zum Baltikum über alle drei Dimensionen - Land, Luft, See - möglichst schwer machen. Und auch vor dem Hintergrund der russischen Vorgehensweise auf der Krim, Stichwort: grüne Männchen, müssen wir davon ausgehen, dass wir relativ schnell mit Fakten konfrontiert werden. Hybride Angriffe Russlands in den baltischen Staaten, verbunden mit dem Versuch, die Reaktion der NATO zu lähmen beispielsweise. Dann müssen wir in der Lage sein, schnell und entschlossen zu reagieren.
Wann aber wäre das? Experten rechnen damit, dass Putin seine Armee in etwa fünf bis acht Jahren so weit aufgerüstet haben wird, dass er einen Angriff auf einen NATO-Staat wagen könnte. Kleine Nadelstiche wären auch schon früher möglich.


Wolfgang Ohl, Generalmajor der Luftwaffe, ist stellvertretender Abteilungsleiter Militärstrategie, Einsatz und Operationen im Bundesverteidigungsministerium.
(Foto: picture alliance / dts-Agentur)
Russland hat in der Hinsicht die Initiative, kann entscheiden, wann es was tut und in welchem Umfang. Putin kann entlang der Bündnisgrenze zwischen der Osttürkei, Rumänien, dem Baltikum und Finnland agieren. Darauf müssen wir uns einstellen, das ist der erste Punkt. Zweitens, und das ist keine rein deutsche Sicht, sondern da sind sich die Mitgliedstaaten innerhalb der NATO einig: Russland ist derzeit in der Lage, seine erheblichen personellen und materiellen Verluste aus dem Ukrainekrieg überzukompensieren. Das heißt, es gelingt ihnen auch mit Blick auf Großgerät, mehr zu produzieren oder an Altmaterial instand zu setzen, als sie pro Tag in der Ukraine verlieren.
Was bedeutet das perspektivisch?
Wenn es unter diesen Bedingungen weitergeht, in einem linearen Vektor, dann wird Russland 2029 in der Lage sein, gegen die NATO in großem Maßstab anzutreten. Wo man das dann zuerst tut und wie, ob man an mehreren Punkten angreift, ob erst hybrid und dann frontal, das wird sich zeigen.
Und die NATO-Analyse ist: Gegen einen russischen Angriff in großem Maßstab reicht ein "Stacheldraht" nicht aus, wir brauchen "Vorne-Verteidigung"? Auch, weil wir nicht wissen, ob wir im Ernstfall Streitkräfte und Material schnell nachschieben könnten, wenn die Suwalki-Lücke dicht ist?
Das können wir nur sicherstellen, wenn wir signifikante Kräfte in den jeweiligen Ländern, etwa dem Baltikum, stationiert haben, genau. Wie das die Alliierten im Kalten Krieg auch in Deutschland taten. Daraus resultierte der Gedanke: Wir bringen jeweils eine Brigade in diese Länder. Deutschland hat dann den Schritt nach vorn gemacht, zu sagen, wir stationieren unsere Brigade dauerhaft.
Wir stationieren dort also die kleinste selbstständig gefechtsfähige Kampfeinheit. Heißt das aber auch: Die muss eigentlich alles dabeihaben?
Wir brauchen alles, was die Brigade können muss im Gefecht der verbundenen Waffen. Also gepanzerte Kräfte, leichtere Kräfte, Panzergrenadiere, Artillerie, aber auch Logistik. Im Gefecht muss alles zusammenwirken. Denn ein Panzerverband, der keine Munition nachgeliefert bekommt, bleibt im Angriff relativ schnell stecken. Genau deshalb stationieren wir die Brigade dauerhaft, weil wir sagen: Diese 4800 Soldatinnen und Soldaten müssen in der Lage sein, zunächst mal auf sich allein gestellt das Gefecht zu führen.
4800 Soldaten, die ihren Lebensmittelpunkt nach Litauen verlegen. Wenn Sie als einer der Hauptverantwortlichen mal nachts nicht schlafen können, worüber machen Sie sich dann Gedanken?
4800 Bundeswehrangehörige dauerhaft nach Litauen zu verlegen, das heißt, wir bringen sie "mit Zusage der Umzugskostenvergütung" dorthin. So nennen wir das. Wir machen dieses Projekt auf der grünen Wiese, brauchen dafür Kasernen mit Büroräumen, technische Bereiche mit Abstellflächen, Werkstätten, Waffenkammern. Wir wollen aber auch Familien mitnehmen. Also brauchen wir zusätzlich Wohnunterkünfte, Kindergärten, Schulen, medizinische Versorgung, Pendelmöglichkeiten. Das ist eine immense Herausforderung, die wir planerisch gemeinsam angehen, die aber rein baulich im Wesentlichen Litauen leisten wird. Und Litauen hat zugesagt: "Wir wollen euch hier haben, wir stellen euch das hin."
Die personelle Herausforderung liegt bei der Bundeswehr. Die 21 Kräfte für das Vorkommando hatten Sie ruckzuck zusammen. 4800 wird aber eine andere Hausnummer. Wo stehen Sie da?
In der Tat haben wir im April das Vorkommando nach Litauen geschickt und im vergangenen Herbst den Aufstellungsstab. Das waren rund 150 Soldatinnen und Soldaten, die wir auswählen konnten aus einer Bewerberlage von 1800. Also mehr als das Zehnfache. Die volle Verlegung planen wir für 2027. Man kann aber nicht erwarten, dass sich heute schon Soldaten für 2027 bewerben. Das große Interesse am Aufstellungsstab hat uns aber nicht überrascht.
Weil es den Reiz des Neuen bietet? Immerhin wird Litauen der erste Auslandsstandort in der Geschichte der Bundeswehr sein.
Dieser Reiz, die Möglichkeit, etwas aufzubauen, Pionierarbeit zu leisten, das ist das eine. Das Zweite: Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben klar erkannt, worum es hier geht und wie ernst und wichtig dieser Auftrag ist. Dritter Aspekt, und auch den darf man nicht unterschätzen: Die Brigade müssen und werden wir optimal ausstatten. Anders geht es nicht. Jeder, der dort rübergeht, weiß, er bekommt von allem das Neueste und genug. Der Hauptgefreite will genau das: einen modernen Panzer, optimale Ausrüstung und Übungsmöglichkeiten. All das werden wir dort schaffen, und das macht die Brigade attraktiv. Wir sehen es an den Bewerberzahlen, und ich bin sicher, dass wir diesen Schwung auch aufrechterhalten.
Von allem das Neueste und genug - das klingt attraktiv, aber auch teuer. Alfons Mais, der Heeresinspekteur, hat gesagt, zum Teil müsse die Truppe das zu Hause "ausschwitzen". Kommt alles Material aus bestehenden Verbänden?
Auch, aber nicht nur. Das Panzergrenadierbataillon, das wir rüberbringen wollen, ist bereits mit dem Puma ausgestattet, dem modernsten Schützenpanzer, den wir haben. Das ist nur ein Beispiel. Aber es gibt andere Peripheriegeräte, für die wir uns zumindest in der Anfangsphase Ausstattung zusammenholen müssen. Die Situation der Bundeswehr ist, denke ich, bekannt. Nach 30 Jahren ausgezahlter Friedensdividende sind wir nicht mehr in der gesamten Breite mit dem modernsten Gerät ausgestattet. Insofern werden wir ein paar Schwerpunkte setzen müssen und möglichst schnell nachbeschaffen, um den Rest der Truppe umfassend kriegstüchtig zu machen.
Wenn Sie sagen, "wir werden nachbeschaffen", heißt das, momentan ist noch nicht alles nachbestellt?
Das wichtigste Material befindet sich schon in der Beschaffung. Ohne in die Details gehen zu wollen. Das 100-Milliarden-Paket ist in weiten Teilen verausgabt oder gebunden. Die Industrie hat in langen Jahren, in denen die Bundeswehr sehr wenig bestellt hat, ihre Kapazitäten runtergefahren und braucht nun qualifiziertes Personal, Produktionsstätten, Rohmaterial, Zulieferer, das geht nicht so schnell. Einen Leopard-II-Panzer baut man auch nicht wie ein Auto in anderthalb Tagen.
Sie haben 2027 erwähnt, als das Jahr, in dem in großem Umfang Kräfte verlegt werden sollen. Was passiert bis dahin? Wie handlungsfähig ist die Brigade im nächsten und übernächsten Jahr?
Wir wollen 2025 die Panzerbrigade in Litauen aufstellen. Dann haben wir einen führungsfähigen Stab vor Ort und können im Laufe des Jahres aufwachsen lassen um weitere Elemente, die wir benötigen. Ab da wollen wir Kräfte aus Deutschland phasenweise nach Litauen verlegen, um dort gemeinsame Übungen durchzuführen. Dadurch lernen unsere Streitkräfte das Gelände kennen, der Brigadestab kann üben, und wir senden natürlich auch ein militärpolitisches Zeichen nach Litauen und nach Russland: Wir meinen es ernst. Wir kennen uns aus. Wir sind bereit.
Mit Wolfgang Ohl sprach Frauke Niemeyer. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" anhören.
"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.
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