Verdächtige Bewegungen im Süden der Ukraine: Am Frontabschnitt bei Cherson mehren sich Berichte über verstärkte russische Aktivitäten. Bereiten die Kreml-Truppen am Unterlauf des Dnipro einen neuen Großangriff vor?
Im Schatten der Abwehrschlachten im Donbass, dem Ringen um Pokrowsk und der Kursk-Offensive schwelt der Krieg im Süden der Ukraine in ganz eigener Form weiter: An der Dnipro-Front nahe der Großstadt Cherson stehen sich ukrainische und russische Truppen in einem ganz besonderen Gefechtsfeld gegenüber - getrennt durch einen rund 500 Meter breiten Streifen offenen Wassers und ausgedehnte Sumpfzonen am Ufer.
Gekämpft wird aus der Distanz mit Drohnen, Granaten und mit kleinen Stoßtrupps in Booten. In die unübersichtliche Lage am Fluss kam zuletzt Bewegung: Berichte über verdächtige Vorbereitungen am Ufer weckten Sorgen vor einem neuerlichen russischen Vorstoß über den Dnipro. Plant Putins Invasionsarmee hier eine größere Attacke an der ukrainischen Südflanke?
"Wir beobachten eine Zunahme der feindlichen Aktivitäten", betonte Oleksandr Prokudin, Verwaltungsleiter der Region Cherson, Ende Dezember im ukrainischen Fernsehen. Die russischen Truppen würden in dem Gebiet Kräfte und Ausrüstung - darunter auch "300 Boote" - zusammenziehen, um den Dnipro zu überqueren, hieß es in einem Bericht der "Kyiv Post".
"Russland will hier eine weitere Offensive starten", zeigte sich Prokudin sicher. Serhij Bratschuk, ein Sprecher der ukrainischen Territorialverteidigung, fügte hinzu, dass die Russen versuchen würden, Inseln im Dnipro-Delta zu erobern. Laut dem ukrainischen Militärsprecher Wladyslaw Woloschyn stehen insbesondere die Inseln Kosazkyj bei Nowa Kachowka, Welykyj Potemkin und Sabytsch im Fokus der Angreifer.Im Generalstabsbericht aus Kiew tauchten zuletzt zudem wiederholte Hinweise auf Angriffe im "Sektor Prydniprowske" auf. Die fragliche Siedlung liegt am rechten Ufer des Dnipro auf ukrainischer Seite, wenige Kilometer östlich von Cherson nahe der zerstörten Eisenbahnbrücke. Unmittelbar gegenüber von Prydniprowske liegt eine kleine Insel im Schwemmland, auf der sich offenbar ukrainische Vorposten gegen russische Attacken wehren.
Sind die verstärkten Aktivitäten an der Dnipro-Front ein Vorbote für neue russische Offensivpläne? Ein Angriff über den Fluss wäre aus russischer Sicht zumindest nicht abwegig. Moskau erhebt formell Anspruch auf vier ukrainische Gebiete, große Teile der Regionen Donezk und Luhansk sowie Anteile der Region Saporischschja befinden sich bereits in russischer Hand.
Die nordwestliche Hälfte der Region Cherson jedoch liegt jenseits des Dnipro, der hier eine mächtige natürliche Barriere bildet. Wäre ein neuerlicher russischer Großangriff über den Dnipro militärisch machbar? Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer sieht bisher keine sicheren Belege, dass die russischen Streitkräfte im Raum Cherson Kräfte zusammenziehen.
Dnipro-Fluss als natürliche Barriere
"Wir sehen bisher keine Bilder, die russisches Militärgerät in größerem Umfang zeigen, also keine Schiffe, Pontons oder amphibische Fahrzeuge, die von den Russen dort bereitgestellt werden", sagt er im Gespräch mit ntv. Ganz auszuschließen sei dies jedoch nicht, betont er.
Aufgrund der Aufklärungsmöglichkeiten mittels Drohnen auf dem Schlachtfeld sei es mittlerweile aber sehr schwierig, entsprechende Angriffsvorbereitungen vor dem Gegner geheim zuhalten. Unter den Bedingungen des "gläsernen Gefechtsfelds" und ohne Luftüberlegenheit sei es, so Reisner, unmöglich, größere Formationen für eine Landungsoperation ungesehen in Stellung zu bringen.
Als Aufmarschgebiet für eine größere Offensivaktion erscheinen die umkämpften Inseln bei Cherson kaum geeignet. Im Schwemmland des Dnipro teilt sich der Fluss in zahlreiche gewundene Nebenarme. Am Ufer der zahlreichen Kanäle reihen sich teils einfache Bootshäuser, teils größere Gärten. Betonbauten, größere unterkellerte Gebäude oder feste Straßen sind weder auf der Insel Kosazkyj, noch auf Welykyj Potemkin oder auf der kleineren Sabytsch-Insel im Dnipro-Delta zu finden.
Die Inseln bieten entsprechend wenig Deckung, die Versorgung über den Fluss ist schwierig. Beide Seiten behalten jede Bewegung mit Drohnenschwärmen im Blick. Ein umfangreicher Großangriff sei unter diesen Bedingungen wenig wahrscheinlich, meint Reisner. "Es könnte aber sein, dass weitere kleinere Vorstöße erfolgen." Ein solches Vorgehen würde die Ukrainer zwingen, Kräfte nach Cherson zu verlegen, um diese abwehren zu können. Die Soldaten und Ausrüstung würden dann an anderen Abschnitten der Front fehlen. Für größere Angriffsoperationen müssten erst günstigere Bedingungen geschaffen werden, führt Reisner aus.
Die Kampfzone am Unterlauf des Dnipro war in den zurückliegenden Kriegsjahren bereits mehrfach in die Schlagzeilen geraten. Ende August 2022 startete die ukrainische Armee eine großangelegte Gegenoffensive in der Region Cherson. Anfang November mussten sich die Russen schließlich hinter den Dnipro zurückziehen, am 11. November 2022 wurde die Gebietshauptstadt Cherson selbst befreit. Bei ihrem Rückzug zerstörten die Russen unter anderem auch die strategisch wichtige Antoniwka-Brücke über den Fluss.
Infolge der Sprengung des Kachowka-Staudamms bei Nowa Kachowka im Juni 2023 kam es im Flusstal unterhalb des Damms zu großflächigen Überschwemmungen mit katastrophalen ökologischen und wirtschaftlichen Folgen. Im Oktober desselben Jahres gelang es den Ukrainern, in Krynky zeitweise einen Brückenkopf am russisch besetzten Ufer des Dnipro zu errichten. Diesen Vorposten konnten sie bis Juli 2024 halten, bevor sich die ukrainischen Verbände nach monatelangen schweren Kämpfen über den Fluss zurückziehen mussten.
Das neuerliche Aufflammen der Gefechte am Dnipro könnte auch auf verstärkte Bemühungen auf ukrainischer Seite hindeuten. Aus den unübersichtlichen Sumpf- und Schilfzonen im Dnipro-Delta können gut getarnte Kommandotrupps das gegnerische Ufer im Blick behalten und mögliche Ziele für die eigene Artillerie ausspähen - oder eigene Kampfdrohnen tiefer ins Hinterland steuern.
Sicher ist: Die riskanten Vorstöße am Dnipro werden beide Seiten weiter beschäftigen. Lokal begrenzte Operationen schaffen nicht nur Voraussetzungen für eventuell bestehende umfangreichere Pläne. Die Angriffe mit Booten und Drohnen an diesem rund 160 Kilometer langen Frontabschnitt vom zerstörten Kachowka-Staudamm über das Dnipro-Delta bei Cherson bis an die äußerste Westspitze der Kinburn-Halbinsel am Schwarzen Meer binden umfangreiche Truppen, die dann an anderer Stelle fehlen.